Wenn ich mich richtig erinnere, war es Václav Havel, der einmal gefordert hat, Politikern zu verbieten, Kinder auf den Arm zu nehmen, sich mit ihnen ablichten zu lassen und sie so für die eigene Präsentation zu benutzen. Ich mache mir diese Forderung jedenfalls gern zu eigen und möchte sie auf Wahlkampfplakate ausweiten.
Kinder sind für die beauftragten Werbeagenturen offenbar Mittel der Wahl, wenn es darum geht, der Inhaltsleere in den Positionen Erwachsener den Anschein der Lebensfreude und Vitalität zu geben.
Dabei sind beispielsweise Kinder auf den CDU-Wahlkampfplakaten zumindest noch inhaltlich motiviert – wenn eine Partei Politik für Familien zu machen verspricht, dann ist es zumindest nicht absurd, dies mit Bildern von Eltern und Kindern zu illustrieren. Wesentlich schamloser sind in dieser Hinsicht Plakate der Grünen – und deren Zusammenhang mit der Pädophilie-Debatte, mit der die grüne Partei seit Monaten konfrontiert ist.
Sex sells. Aber Kinder gehen auch immer.
Natürlich eine Anspielung an Hello Kitty, die den Eindruck erweckt, Kinder würden es sehnlich erwarten, möglichst früh von ihren Eltern in eine Kita gegeben zu werden. Der Ausbau von Kindertagesstätten ist sinnvoll, aber es geht dabei um die Interessen Erwachsener, darum, berufliches und familiäres Leben vereinbaren zu können – ob die Kinder von den entwickelten Lösungen angetan sind, spielt dabei keine Rolle.
Absurder noch ist dieses Plakat:
Das ist nicht einmal mehr assoziativ und am Rande ein Kinderthema, hier ist der Junge ganz selbstverständlich Sprachrohr der Bedürfnisse seiner Mutter. Interessanter als das angepeilte Thema der Spitzenplätze für Frauen ist denn auch, was das Plakat über grüne Fantasien zum Mutter-Kind- bzw. Mutter-Sohn-Verhältnis aussagt – das Kind ist, als sei gar nichts dabei, bloß Gefäß für die Bedürfnisse einer Erwachsenen.
Auf interessante Weise wird auch im folgenden Plakat ein Kind, nun ein Mädchen, für die politischen Forderungen Erwachsener benutzt:
Hier imaginieren sich Erwachsene selbst als Kinder, sind noch klein (und natürlich, entsprechend der traditionellen Bedeutung von Kindern in der politischen Propaganda, unschuldig), aber ihre Energiekonzepte werden später ganz gewiss einmal ganz groß sein und das ganze Land versorgen.
Das einzige Kinder- und Jugendlichen-Plakat der Grünen, das tatsächlich an die Interessen des dargestellten Jungen oder Mädchens anknüpft, ist dieses hier:
Auch hier aber sind es nur indirekt Kinderinteressen, die im Mittelpunkt stehen – die Interessen des Jungen werden erst dann von Belang sein, wenn er einmal erwachsen ist und für die heute angehäufte Schuldenlast aufkommen muss.
Logische Konsequenz der Schamlosigkeit, mit der die Grünen Kinder für ihre Wahlkampfplakate benutzen, ist dann ein kleiner Kasten auf der zentralen grünen Wahlkampf-Website – ein Mädchen bittet um Spenden für die Partei.
Als ich das erste Mal eines dieser grünen Wahlplakate sah, nämlich das Hello-Kita-Bild, kam mir die Situation sehr unwirklich vor. Ich fragte mich kurz, ob die Grünen nun eigentlich endgültig den Verstand verloren haben, hatte dann aber das seltsame Gefühl, dass sich sonst niemand an diesen Plakaten störte. Jedenfalls ist die Souveränität beachtlich, mit der die Grünen ignorieren, dass ihre Partei sich seit einigen Monaten mit nachdrücklichen, dringlichen und gut begründeten Fragen zu ihrer Unterstützung der Pädophilie auseinandersetzen muss.
Was wäre wohl geschehen, wenn die katholische Kirche während ihrer Pädophilie-Skandale auf die irre Idee gekommen wäre, in ganz Deutschland Bilder von Kindern zu plakatieren, denen Empfehlungen zur Mitgliedschaft in der katholischen Kirche in den Mund gelegt wurden? Vermutlich hätten führende Grünen-Politiker zu den ersten gehört, die sich angesichts der ungeheuren Unsensibilität gegenüber den Opfern publikumswirksam erschüttert gezeigt hätten.
Gewissens-Outsourcing und andere unschuldige Lümmeleien
Die Grünen aber haben, was Fragen nach der grünen Pädophilie-Unterstützung angeht, ein erfolgreiches Outsourcing betrieben und eine Arbeitsgruppe des Göttinger Politikwissenschaftlers Franz Walter beauftragt, die Rolle der Grünen bei der politischen Lobbyarbeit für die sexuelle Verfügbarmachung von Kindern zu untersuchen. Nico Fried kommentiert das Verhalten der Grünen in der Süddeutschen Zeitung:
„Ihre historische Aufarbeitung ist lobenswert, ihr politisches Gebaren jämmerlich. Bedurfte es wirklich einer wissenschaftlichen Studie für die Feststellung, dass sich die Partei im ersten Grundsatzprogramm von 1980 für eine Legalisierung sexueller Beziehungen von Erwachsenen mit Minderjährigen aussprach? Ein Blick ins hauseigene Archiv hätte genügt.“
Walters Zwischenergebnisse, die er gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Stephan Klecha zuerst in der FAZ veröffentlichte, sind allerdings zweischneidig. Einerseits wird, so Fried, die „Verteidigungslinie hinfällig“, in der grüne Parteiverantwortliche wie Volker Beck oder Katja Dörner behauptet hatten, es hätte niemals Parteibeschlüsse zur Legalisierung der Pädophilie gegeben. Nach Walter und Klecha findet sich
„die Forderung nach einer strafrechtlichen Freistellung von Pädophilie (…) schon im ersten Grundsatzprogramm der Grünen aus dem Jahr 1980“ und blieb in Kraft „bis zur Fusion mit Bündnis 90 im Jahr 1993“.
Gleichwohl ist auch Walters und Klechas FAZ-Beitrag „Distanzierungstango in der Pädofrage“ durchsetzt von Formulierungen, mit denen sie die Verantwortung Grüner eher kaschieren als aufklären. Der Text steigt ein mit einem berüchtigten Zitat Daniel Cohn-Bendits aus einer französischen Talkshow des Jahres 1982, in dem dieser von der umwerfenden erotischen Wirkung eines fünfjährigen Mädchens beim Ausziehen schwärmt.
Die Wissenschaftler verbuchen dieses Zitat als Lust an der Provokation und beschreiben Cohn-Bendit als „pausbäckigen Lümmel“ – ausgerechnet angesichts einer Situation also, die von der Machtdifferenz zwischen Erwachsenen und Kindern geprägt ist, infantilisieren sie den erwachsenen Mann, präsentieren so die Situation unterschwellig als Spiel zwischen Kindern und kopieren damit eben das pädophile Selbstverständnis, das aufzuklären sie vorgeben.
Ihre aufsehenerregendsten Ergebnisse bestehen darin, dass sie andere Parteien – und insbesondere die FDP, Intimfeindin der Grünen – belasten. Beispielsweise zitieren sie einen Artikel der FDP-Bundestagskandidatin Döring, die ihre Kandidatur inzwischen zurückgezogen hat und die 1980 für die Legalisierung der Pädophilie eintrat. „Kausal keineswegs zwingend, aber doch interessant“ ist es in den Augen Walters und Klechas, dass sie 27 Jahre später in die FDP eintrat – was eine gepflegte Umschreibung des Umstands ist, dass sie zwar keinen logischen Zusammenhang zwischen Dörings Artikel und dem FDP-Beitritt konstruieren können, aber ja doch irgendwie das eine mit dem anderen etwas zu tun haben müsse.
Günter Verheugen schließlich habe 1980 während einer Veranstaltung von Schwulen- und Lesbengruppen in der Bonner Beethovenhalle vor Pädophilie-Lobbyisten eine „Revision der Paragraphen 174 und 176“, in denen es um sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen und von Kindern geht, für möglich gehalten. Verheugen wiederum, der erst der FDP und dann der SPD angehörte, empört sich darüber, dass Walter mit ihm niemals über die Vorwürfe gesprochen habe – was Walter im Spiegel gewunden damit erklärt, dass er nun einmal keine „Oral History“ betreibe, sondern mit Dokumenten arbeite (als ob es für Historiker und Politikwissenschaftler völlig absurd wäre, die Arbeit mit Dokumenten durch Zeitzeugeninterviews zu ergänzen, falls es möglich ist).
Natürlich ist es möglich, sogar wahrscheinlich, dass die Grünen nicht die einzige Partei sind, der eine Unterstützung pädophiler Anliegen vorzuwerfen ist, und dass dies in einer sorgfältigen Forschungsarbeit auch deutlich wird. Dass Walters Arbeit gleichwohl ein Gschmäckle hat, merkt er offenbar selbst: Er klärt über die Grünen nur das auf, was ohnehin nicht mehr lange zu vertuschen war, und belastet ansonsten die politische Konkurrenz seines Auftraggebers.
Im Spiegel verteidigt Walter sein Vorgehen, beruft er sich auf Schilderungen von Opfern Pädophiler und schließt seinen Text mit einem moralisierenden Overkill, nämlich mit dem Satz „Es widert mich an.“ Es sind aber eben nicht die Täter, über die sich Walter hier so wirkungsvoll empört, sondern diejenigen, die Zweifel an der Unvoreingenommenheit seiner wissenschaftlichen Arbeit formulieren.
Ihren FAZ-Text schließen Walter und Klecha mit der Feststellung, dass
„Bündnis 90/Die Grünen schließlich mit ihrer Vergangenheit unwiderruflich gebrochen“ hätten.
Sie begründen diesen Persilschein mit der grünen Ablehnung sexualisierter Gewalt aus dem Grundsatzprogramm 2002, doch diese Begründung ist nicht tragfähig. Denn schließlich haben die Grünen sich niemals, ebenso wenig wie eine andere demokratische Partei, für sexualisierte Gewalt ausgesprochen und mussten daher auch nicht damit „brechen“ – ihr Problem bestand und besteht darin, dass sie Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen überhaupt nicht als Gewalt wahrnahmen. Wie aber war das möglich?
Die Unfähigkeit, sich zu schämen
Nachdem die „Verteidigungslinie“, dass es nie entsprechende Beschlüsse gegeben habe, nicht mehr haltbar ist, haben sich Grüne offenbar nun darauf verständigt, dass
„Nachsicht und Toleranz gegenüber pädophilen Bestrebungen“ (auch hier: Walter/Klecha)
ihr Problem gewesen seien. Diese Selbstkritik hat etwas entschieden Selbstverliebtes: Noch in ihrer programmatischen Position, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene straffrei sein müsse, entdecken die Grünen und die aufklärenden Wissenschaftler nichts als eine demokratische Tugend, nämlich eine große Toleranz, die nun einmal leider ausgenutzt worden sei.
Das ist unplausibel. Die programmatischen grünen Beschlüsse sind nur unter der Voraussetzung zu erklären, dass die Verantwortlichen keinen Unterschied zwischen den Bedürfnissen Erwachsener und den basalen Interessen von Kindern machten. Möglicherweise gab es im linksalternativen Milieu, aus dem sich die grüne Partei speiste und speist, in eben dieser Hinsicht spezifische und besonders günstige Voraussetzungen für Pädophile.
Wer die Tabus der „bürgerlichen Gesellschaft“ rundweg für menschliches Elend verantwortlich machte und gar nicht auf die Idee kam zu fragen, ob manche dieser Tabus nicht auch vernünftige Funktionen erfüllen könnten – für den sind eben gerade die Menschen attraktiv, die in der eigenen Imagination noch nicht von diesen Tabus infiziert sind. Kinder konnten so zur Projektionsfläche der Sehnsucht Erwachsener nach einer Unschuld außerhalb der rigiden „bürgerlichen Sexualmoral“ werden.
Zudem operiert diese Position mit einer klaren Gut-Böse-Zuordnung, die eine ehrliche Reflexion des eigene Handelns erschwert – auf der einen Seite stehen die Vertreter einer reaktionären Zwangsgesellschaft, auf der anderen Seite die humanen Repräsentanten einer zukünftigen besseren Welt.
Es ist beispielsweise plausibel davon auszugehen, dass die schwerkriminellen Strukturen der Odenwaldschule ohne solche Schwarz-Weiß-Klischees niemals über Jahrzehnte hinweg hätten verdeckt werden können: Wer über den systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern an dieser reformpädagogischen Vorzeigeeinrichtung berichtet hätte, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Vorwurf begegnet, damit den Vertretern einer „reaktionären“ Pädagogik in die Hände zu spielen.
Die Chefredaktion der inoffiziellen grünen Parteizeitung taz kommt gar nicht auf die Idee, aus diesen Zusammenhängen Schlüsse zu ziehen. Gerade erst hat die Chefredakteurin Ines Pohl einen kritischen Artikel des renommierten Bildungsjournalisten und taz-Redakteurs Christian Füller mit fadenscheinigen Argumenten aus dem Blatt gekippt – offenkundig, um den Grünen im Wahlkampf nicht zu schaden. Sätze wie die folgenden sollten also taz-LeserInnen nicht erreichen (der unterdrückte Füller-Artikel findet sich, mit Dank an Genderama, hier):
„Empathie gibt es bei den Grünen nur für die Opfer der anderen. Als die Bundesregierung 2010 einen Runden Tisch einrichtete, gehörte Fraktionschefin Renate Künast zu denen, die am lautesten Aufklärung forderten — von der katholischen Kirche. Jürgen Trittin weicht noch in seinem jüngsten Interview in der »Welt« jedem Vergleich mit der Kirche aus. Das ist insofern richtig, als die katholische Kirche anders aufklärt als die Grünen — besser und gründlicher.„
Auch die grüne Weigerung, Anlaufstellen für die Opfer ihrer Politik zu schaffen, ist wohl auf ein einfaches Gut-Böse-Verständnis der politischen Landschaft zurückzuführen: Es wäre für Grüne offenbar Neuland, den Gedanken zu akzeptieren, dass auch die Politik ihrer eigenen Partei Opfer produziert. Vor allem aber ist noch in der Weigerung, Opfer der eigenen Politik anzuerkennen, die alte brutale Überzeugung aufbewahrt, dass Pädophilie ein „Verbrechen ohne Opfer“ wäre – die Grünen behandeln die sexuell ausgebeuteten Kinder, die heute erwachsen sind, als Kollateralschäden im ehrbaren Kampf um die sexuelle Befreiung (ein Bericht über eines der Opfer findet sich in der Welt).
Die Unfähigkeit, sich über die eigenen Positionen zu schämen, zeigt sich auch an der letzten grünen Verteidigungslinie gegen Pädophilie-Vorwürfe, nämlich dem Hinweis, dass sich die „Sichtweise der feministischen Strömungen bei den Grünen“ (erneut: Walter/Klecha) durchgesetzt hätte. Tatsächlich hat beispielsweise Alice Schwarzer schon früh gegen die Verharmlosung der Pädophilie deutlich Stellung bezogen.
Doch die feministische Pädophilie-Kritik hat einen Preis: Die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Erwachsene wird darin als Nebenwiderspruch patriarchaler Verhältnisse, die tatsächliche Herrschaftsdifferenz zwischen Erwachsenen und Kindern als Teil einer imaginierten männlichen Herrschaft begriffen.
„Ganz wie die Kinder mit den Pädophilen machen es die Frauen mit den Freiern angeblich ‚einvernehmlich‘ und ‚freiwillig‘“
– diese krumme Parallele zwischen dem sexuellen Missbrauch von Kindern und der Prostitution konstruiert Schwarzer ausgerechnet in einem Text, der mit den pädophilenfreundlichen Positionen der Grünen abrechnet. Sie nimmt dabei gleichfalls Kinder für Interessen Erwachsener in Haftung, während ihr etwa die Inzestverherrlichung ihres Idols Andrea Dworkin niemals ein Wort der Kritik wert war.
Die feministische Position Schwarzers kopiert also eben die problematischen Strukturen, die Bedingung für die grüne Unterstützung von Pädophilen waren: die Identifikation der Bedürfnisse Erwachsener mit den basalen Interessen von Kindern und die klare Einteilung der Welt in simple Gut-Böse-Strukturen.
Wenn die Grünen sich nun auf eine leider allzu große Toleranz und auf die Durchsetzung feministischer Positionen berufen, dann basteln sie sich wiederum Verteidigungslinien, die sachlich nicht haltbar sind. Sie sind nur eben weniger klar durch Sachinformationen zu widerlegen als die primitive Behauptung, es habe niemals Parteibeschlüsse zu Gunsten Pädophiler gegeben.
„Aufgeklärt!“, titelte die taz als grünes Sprachrohr Mitte August, als ob sie das großmäulige Bush-Statement „Mission accomplished“ nachäffen wollte. Nicht nur die flächendeckende, angesichts der Pädophilie-Debatte irrwitzig schamlose Benutzung von Kindern auf den grünen Wahlplakaten zeigt, dass diese Behauptung verfehlt ist. Das Gegenteil ist richtig: Die Aufklärung über die Unterstützung der Grünen für die sexuelle Verfügbarmachung von Kindern und Jugendlichen hat noch nicht einmal ernsthaft begonnen.
Der FAZ-Artikel von Franz Walter und Stephan Klecha ist noch nicht online erhältlich. Ich zitiere hier aus:
Franz Walter/Stephan Klecha: „Distanzierungstango in der Pädofrage“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. August 2013, S. 7
Der Artikel erschien zuerst auf man tau.