Am 22. September 2013 haben die Schweizer das Recht abzustimmen. Zur Debatte steht Artikel 59, Absatz 1 bis 3 der Bundesverfassung – die allgemeine Wehrpflicht für Männer. Anlass genug, die geschlechterpolitische Dimension dieser Abstimmung in Augenschein zu nehmen.
Der Tradition verpflichtet
Abstimmungen über die Wehrpflicht haben in der Schweiz Tradition. Unvergessen ist wohl die Debatte aus dem Jahr 1989. In diesem Jahr war es der 1982 gegründeten Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) zum ersten Mal gelungen, durch das Sammeln von 111.300 gültigen Unterschriften eine Abstimmung über den Zwangsdienst in der Schweizer Armee zu erzwingen.
Damals hatte sich der damals wohl bekannteste Schweizer Literat Max Frisch in die Debatte eingeschalten und ein kleines Büchlein mit dem Titel Schweiz ohne Armee? Ein Palaver veröffentlicht. Die Schrift ist zum Politikum geworden. Plötzlich ging es nicht mehr um ein paar Monate Zwangsdienst für junge Schweizer Männer, es ging um mehr, es ging um das Selbstverständnis der Schweizer. Eine Schweiz ohne Armee, das passte irgendwie nicht in das Selbstverständnis eines guten und traditionsbewussten Schweizers – das ist etwas was „ein rechter Schweizer nicht tut“ , hieß es bei Max Frisch. Die Abstimmung ging aus der Sicht der Aktivisten verloren und die Wehrpflicht blieb erhalten. Aber die Debatte hatte Folgen. Es wurde weiterhin heftig über das Verhältnis der Schweiz zur eigenen Tradition diskutiert, die Schweizer Armee erlitt einen erheblichen Imageverlust und sah sich zu Reformen genötigt.
Die gleiche Gruppe hat es nun erneut geschafft, einen Volksentscheid zu erzwingen. Und auch diesmal hat die Debatte um die Wehrpflicht die Chance, zum gesamtgesellschaftlichen Politikum zu werden. Und auch diesmal geht es um eine Tradition, mit der zu brechen, die Schweizer gut täten: Es ist an der Zeit, das bisher unangetastete Paradigma, das Thema Gleichberechtigung nur aus Frauenperspektive zu betrachten, zu brechen. Und das nicht nur durch einige beherzte Menschen wie etwa Markus Theunert, welcher für geschlagene drei Wochen der erste Männerbeauftragte der Schweiz sein durfte, sich aber dann als zu unbequem erwiesen hatte und gegangen wurde.
Die Allgemeinheit das sind in der Schweiz nur die Männer
Die Schweiz hat erst spät das Frauenwahlrecht eingeführt, erst seit 1971 dürfen Frauen an die Urne. Doch seitdem hat die Schweiz in Fragen Gleichberechtigung für Frauen tüchtig aufgeholt. Im Global Gender Gap Report des World Economic Forum rangiert die Alpenrepublik seit Jahren unter den Top Ten. Auch in der Schweiz bemüht man sich immer und überall darum, Frauen nicht durch „Männersprache“ unsichtbar zu machen und bei jeder Gelegenheit zu betonen, dass dort, wo Gesellschaft steht, Männer und Frauen drinnen sind und dort, wo alle angesprochen werden, Angehörige aller denkbaren Kategorien des Geschlechts gemeint sind. Doch in Fragen der allgemeinen Dienstpflicht bestand auch in der Schweiz Einigkeit darüber, dass es um Sicherheit, Patriotismus, Tradition und vielleicht noch um Pazifismus geht – nicht aber um Geschlechtergerechtigkeit. Doch dieses Paradigma ist jetzt ins Wanken geraten. Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee hat diesen Stein selber ins Rollen gebracht, indem sie sich öffentlichkeitswirksam für den Gleichstellungspreis der Stadt Zürich beworben hat. In der Begründung ist zwar noch etwas zögerlich von der Überwindung von Geschlechterstereotypen und dem gleichberechtigten Zugang der Frauen zum Zivildienst die Rede, aber es fiel auch ein Satz, der wahrscheinlich jedem auf der Zunge liegt, der aber in den bisherigen Debatten bewusst ausgeblendet wurde: „Die Wehrpflicht benachteiligt pro Jahrgang mehrere Zehntausend junge Männer und behindert sie in ihrer Entwicklung, wie eine Studie im letzten Jahr zeigte.“ Und sie benachteiligt sie nicht gegenüber irgendjemandem, sondern gegenüber ihren weiblichen Altersgenossen.
Frauenwahlrecht und Männerzwangsdienst
Auch in Österreich gab es vor einem halben Jahr eine Abstimmung über die allgemeine Wehrpflicht für Männer. Was man dort beobachten konnte, war grotesk. Junge Männer hatten mit überwältigender Mehrheit gegen die Wehrpflicht gestimmt, aber diejenigen, die von der Wehrpflicht nicht oder nicht mehr betroffen waren, hatten mit überwältigender Mehrheit dafür gestimmt.
So ist am Ende eine Mehrheit für die Wehrpflicht zustande gekommen und Männer müssen weiterhin dienen, während ihre Altersgenossinnen anfangen zu studieren oder sich ein Jahr Work and Travel in Australien oder sonstwo gönnen. Noch grotesker wurde es, als man die Motivation der Zwangsdienstbeführworter in Augenschein genommen hat. Nicht etwa das Thema Sicherheit war da ausschlaggebend für die Wahl, sondern das Thema Zivildienst.
Bereits im Vorfeld hatten Organisationen wie das Rote Kreuz (welche im Übrigen erheblich von der kostenlosen Zwangsarbeit junger Männer profitieren) Horrorszenarien entworfen, die angeblich zu erwarten wären, wenn junge Männer nicht mehr zwangsweise der Gesellschaft dienen würden.
Es ist eine Form des Asynchronen, dass Frauen, die noch nie und wahrscheinlich auch zukünftig nie von Zwangsdiensten betroffen sein werden, darüber entscheiden dürfen, ob Männer eben dies zu tun haben oder nicht. Das ist kein Zufall, sondern das Resultat eines geschlechterpolitischen Paradigmas, mit dem endlich gebrochen werden muss. Und da eine Abschaffung des Frauenwahlrechts weder wünschenswert noch durchsetzbar ist, kann es nur eine Möglichkeit geben: Die endgültige Abschaffung des sexistischen Zwangsdienstes.
Diese Ungleichheit der Geschlechter bekommen junge Männer in der Schweiz und in Österreich übrigens besonders deutlich zu spüren, wenn der Aufruf zur Musterung ins Haus flattert. Junge Schweizer und Österreicher werden dort heutzutage hauptsächlich von Ärztinnen und Assistentinnen zu Untersuchungen, die durch die Verfassung legitimiert sind, gezwungen – auch im Intimbereich. Alles im Namen der Gleichberechtigung. Ein Land, welches derartige Absurditäten und Perversionen zulässt, hat den zehnten Platz im Global Gender Gap Report nicht verdient.
Die Abstimmung in der Schweiz als Prüfstein der Geschlechterfrage
Die GSoA hatte mit der Bewerbung um den Gleichstellungspreis der Stadt Zürich den geschlechterpolitischen Stein ins Rollen gebracht. Die Einführung der Wehrpflicht für Frauen in Norwegen hatte zusätzliches Öl in das geschlechterpolitische Feuer gegossen. Und eine Umfrage des Center for Security Studies der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich hatte im Frühjahr ergeben, dass eine Mehrheit der Schweizer eine allgemeine Dienstpflicht auch für Frauen befürwortet. Damit war die Arena für eine Geschlechterdebatte um die Frage der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern bezüglich der Zwangsdienstfrage in der Schweiz eröffnet.
Doch es gibt reichlich Gegenwind. Die Gründung eines Nationalen Frauenkomitees für die Wehrpflicht ist einer dieser unangenehmen Windstöße gegen eine fortschrittliche Gleichstellungspolitik und ein Ausdruck des Asynchronen zwischen Frauenrechten und Männerzwangsdiensten. Eine der Präsidentinnen dieses Komitees, Corina Eichenberger, hat sich kürzlich gegenüber einer Schweizer Tageszeitung über «die Instrumentalisierung des Gleichstellungsarguments» in der Armeedebatte beschwert und hinzugefügt, dass den Armeeabschaffern (so bezeichnet man die GSoA in bürgerlichen Kreisen gerne – bei der Aussprache darf dann natürlich der verächtliche Unterton nicht fehlen) jeder Trick recht sei.
Die Absurdität, dass niemand ein Frauenkomitee für den Männerzwangsdienst auch nur ein wenig anstößig findet, der Fakt, dass im Nationalen Frauenkomitee für die Wehrpflicht vor allem Frauen sitzen, die sich sonst lautstark für Frauenrechte und Gleichberechtigung einsetzen, und der Umstand, dass die Geschlechterfrage in der Wehrpflichtdebatte als Instrumentalisierung und Trick empfunden wird und nicht als grundlegendes Problem, zeigen, dass es bezüglich der Geschlechterverhältnisse in der Schweiz noch einiges zu besprechen gibt.
Es bleibt also zu hoffen, dass die Abstimmung am 22. September, unabhängig davon, wie sie ausgeht, die Geschlechterfrage nachhaltig in der Armeedebatte verankern wird. In jedem Fall ist es ein Prüfstein für ältere Männer, wie solidarisch sie mit ihren jüngeren Geschlechtsgenossen sind, denn die sind in der absoluten Mehrheit gegen den Zwangsdienst, und es ist ein Prüfstein dafür, wie solidarisch Frauen mit ihren männlichen Mitmenschen sind, denn Frauen stellen in der Schweiz die Mehrheit der Wähler und haben somit die Chance, die Wehrpflichtfrage quasi im Alleingang zu entscheiden.
Die Armeedebatte 1989 hatte den Fokus auf das Thema „Schweiz und Tradition“ gerichtet, die Armeedebatte 2013 auf das Thema „Geschlecht“ – hoffentlich mit dem gleichen Maß an Nachhaltigkeit.
In diesem Sinne, liebe Schweizer: Wehrt euch gegen die Wehrpflicht, denn sie ist eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes und jeder hat das Recht und die Pflicht, sich gegen Diskriminierung zu wehren!
Ein Beitrag der BASTA – Kampagne. BASTA ist eine Initiative für Menschenrechte, die sich gegen jede Form der Diskriminierung und Erniedrigung im militärischen Kontext einsetzt. BASTA setzt sich schwerpunktmäßig für die Abschaffung und Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen im Rahmen von erzwungen Untersuchungen im Intimbereich (Musterung) ein.