Der Holzjunge Pinocchio wünscht sich nichts sehnlicher als ein richtiger Junge aus Fleisch und Blut zu werden. Doch bis es soweit ist, muss er sich im Fluss des Lebens, das ihn stets zwischen den Ufern von Areté (des Guten) und von Kakai (des Schlechten) herspült, seinen eigenen Weg zu einem guten, gelingenden Leben finden. Dieses gelingt ihm schließlich und er wird ein echter menschlicher Junge. Wie Pinocchio, befinden auch wir uns in den Stromschnellen des Lebens, mit dem Unterschied, dass wir dieses als nichtwissende, hippe Nomaden tun. Denn wir meinen echte Menschen zu sein, aber de facto sind wir es nicht.
In praxi sind wird nichtwissend Wollende. Getriebene, Wütende, Rastlose ohne jegliches Telos, ohne jeglichen Thymos. Pro nihilo. Entfremdete nicht nur in der Welt, sondern auch im eigenen Selbst. Immanent entfremdet, transzendent entfremdet, hyperentfremdet. Gewissermaßen Entfremdung par excellence.
Der unbändige, barbarische im Herzen frei flottierend ausschlagende Wille ist nur schwer zu justieren. Einziger Orientierungspunkt? Das Außen. Oder genauer, die Hegemonie der Zweckrationalität. Es gilt lateinisch „quid pro quo“, christlich „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ und salopp-straßentauglich „Wie du mir, so ich dir.“ Doch ist es wirklich das „Ich“, das hier denkt? „Ich“, das hier lebt? Sollte es nicht richtigerweise heißen: „Es“ denkt, „Es“ lebt? Wo ist das „Ich“, wo bin „Ich“? Ist „Es“ nur Zweck?
Deswegen marschieren wir doch wie uniformiert Meinende, uniformiert Denkende, uniformiert Handelnde. Alles sinnfreie, verzweckte Gestalten in zweckigen Uniformen. Nichtwissend Wollende, die meinen wollend zu wissen, was sie wissend wollen, aber nicht wissen, dass sie nichtwissend wollen. In dieser Willensspirale gefangen, verlieren sich offenkundig nicht wenige in den Tiefen der neumodischen, psychologischen Brandmarkungen von Depression über Burn-Out bis hin zum Workaholic. Das ist eben das amorphisierende Momentum im Leben des nichtwissenden Willens.
Doch ist das alles? Dieser negative Voluntarismus sich erstreckend von Schopenhauer („Die Welt als Wille und Vorstellung“) über Nietzsche („Der Wille zur Macht“) bis hin zu Freud („Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“)? Dieses traurige Bild, dass wir irgendwo stehend zwischen dem barbarischen Tier und dem humanen Menschen als gezähmtes, domestiziertes Halb-Mensch/Halb-Tier-Wesen zu finden sind? Nichts mehr als ein surrealer Albtraum, aus dem einige von uns hoffen endlich zu erwachen? Schauen wir genauer hin, dann erhaschen wir noch diejenigen kamoufliert Vagabundierenden, die über Thymos und Télos verfügen: den wissenden Willen.
Der wissend Wollende ist offenkundig auch ein Getriebener. Doch im Gegensatz zum unwissend Wollenden weiß dieser sein inneres, wildes Tier zu zähmen. Er ist sein Dompteur sui generis. Er ist der Steuermann seines auf offenem Meer befindlichen Schiffs. Er ist sein „Ich“. Nicht außen, sondern das Innen zählt. Kein zweckrationaler, sondern ein gelingender Diskurs findet statt. Deswegen obliegt ihm nach Hegel sich zum denkenden Willen zu erheben. Vom wissenden Willen zum denkenden Willen. Die Vorzüge des wissend Wollenden gegenüber dem nichtwissend Wollenden: Die Aussicht auf den philosophischen Eros.
Deswegen will er sich nicht fügen. Deswegen will er ausbrechen. Deswegen muss er aus der Reihe tanzen. Das „Ich“ will sich nicht dem „Es“ subordinieren. Das „Ich“ als intellektueller Flüchtling sozusagen. Ein Vertriebener aus den eigenen Reihen. Aus Sicht der unwissend Wollenden ein undankbarer Nonkonformist, den es zu zähmen und ächten gilt. Schließlich macht ihn sein eigenwilliger Impetus unberechenbar und unbequem. Schließĺich ist er es, der weiß, was er will.
Somit ist er der geborene Eremit. Nicht für die Gemeinschaft geschaffen. Doch ohne sie kann er nicht leben – und das weiß er. Aber auch die Gemeinschaft kann nicht ohne ihn leben. „Die Tendenz der Herde ist auf Stillstand und Eigensinn ausgerichtet, es ist nichts Schaffendes in ihr“, wusste schon Nietzsche. Wie sonst kann der nichtwissende Wille – außer durch Zufall – etwas erschaffen? Eine aussichtslose Aufgabe.
Wenn man beachtet, dass es sein von außen sozialisierter Steuermann ist, der sich ihm melodienreich als eigene Stimmte aufdrängt, wird es nur allzu verständlich, dass alle unisono die gleiche Melodie in unterschiedlicher Stimmlage mit minimalster Kakofonie singen – schließlich sind nicht alle die geborenen untertänigen Musiker. Choral, fast pastoral erklingend verpuffen sie – egal ob Mezzosopran oder Bariton, ob Alt oder Bass – zu einer sich vereinheitlichenden Stimme. Ihr immanenter Ersatzgott. Ihre einträchtige Ersatzreligion. Amen.
Aber auch dieser pseudoplural-musicalhafte Gesang des nichtwissenden Willens kann ihr tiefes, nihilistisches Vakuum nicht füllen, sie letztlich nicht erfüllen. Denn gerade die inneren Stimmen sind es nach Friedemann Schulz von Thun, die als diskursive Wertträger fungieren und somit sinngebend den Nihilismus erschlagen und den Weg zum Selbst aufschlagen. Deswegen ist nur der wissende Wille im Stande Aristoteles Grundtugenden – Phronesis (Klugheit), Dikaiosyne (Gerechtigkeit), Andreia (Tapferkeit), Mesotes (Mäßigung) – zu verstehen und zu hierarchisieren.
„Gerade in der Psychotherapie haben wir es nach meiner Ansicht oft mit dem Sachverhalt zu tun, dass Menschen gleichzeitig mehrere Intentionen verfolgen, die aber eigentlich miteinander unvereinbar sind und sich in ihrer Realisierung gegenseitig behindern“, so der deutsche Psychiater Klaus Grawe. Offenkundig trifft dies sowohl für den nichtwissenden als auch für den wissenden Willen zu. Der Nichtwissende, nicht im Stande diesen Konflikt – da für ihn unsichtbar – zu bewältigen, wird zur Causa für den Therapeuten. Der Wissende, wissend und willens, diesen Konflikt zu lösen, orientiert sich beherzt an Schopenhauers Bonmot der Kunst als zeitweiliges „Quietiv des Willens“, also als Beruhigungsmittel.
Hier kann sich der wissende Wille probieren, austoben, „enttrieben“, sich in seiner ganzen Komplexität erfassen. Netzwerken ist auch hier en vogue. Aber es wird nicht außen, sondern innen wie wild genetzwerkt. Wort wird mit Wort, Gedanke mit Gedanke vernetzt. Es gilt nicht Facebook, sondern Willbook. Nicht WhatsApp, sondern WillsApp. Nicht World Wide Web, sondern World Wide Will. Das ist der wollende Raum. Der Chatroom für wissend Getriebene, Wütende, Willende.
Eine unabdingbare Notwendigkeit für das gute, gelingende Leben. Denn können der Zweck, ja der Nous, die ersten Prinzipien begründen? Erklären was das Sein sei? Ontologisch, epistemologisch? Gar aus neurowissenschaftlicher Perspektive mit bunten Bildchen vom Gehirn, deren einige Vertreter sich selbst das Etikett der willenlosen Puppe ankleben?
„Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point“ (Blaise Pascal). Die grundlegende Weltordnung – also der wissende Wille – ist entscheidend und nicht die pinocchiohafte, zweck-hölzerne des nichtwissenden Willens. Erst sie ermöglicht Selbstliebe, Weltliebe und Menschenliebe, also echte Menschlichkeit.