Politik als Dreigroschenoper – Joachim A. Langs „Mackie Messer“

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Der Film „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ ist auch Kommentar unserer aktuellen Politik.

Ein Film im Jahr 2018 über etwas, das im Jahr 1928 und kurz danach geschah – über Bertolt Brecht, der damals gegen die Produktionsfirma vor Gericht zog, mit der er eigentlich seine und Kurt Weills Dreigroschenoper hatte verfilmen lassen wollen. Was soll das heute?

Tatsächlich ist Joachim A. Langs Mackie Messer – Der Dreigroschenfilm ein sehr präziser Kommentar zu unserer politischen Landschaft, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das den Beteiligten von links bis rechts gefallen wird. Vor allem zeigt er, was heute in der politischen Diskussion fehlt: nämlich ein Sinn für Dialektik.

Von echten und von gewinnbringenden Opfern

Als ich die Dreigroschenoper zum ersten Mal sah, versuchte ich vergeblich, irgendjemandem in dem Stück zu finden, der mir wirklich sympathisch sein könnte. Mackie Messer wird schon in seiner berühmten Moritat gleich zu Beginn als skrupelloser, wahlloser Mörder vorgestellt: „Und der Haifisch, der hat Zähne“. Sein Gegenspieler, der Bettlerkönig Peachum, ist ebenso skrupellos, ein Geschäftemacher mit menschlichem Leid. Der Polizeichef Brown ist korrupt und vertritt eine Obrigkeit, die das Elend der Massen kalt lässt: Wichtig ist ihm vor allem, dass die Krönung der Königin nicht durch den Anblick von Bettlern gestört wird.

Polly, Peachums Tochter und schließlich Mackies Ehefrau, wirkt unschuldig und naiv, lebt aber selbstverständlich von den Geschäften des Vaters und möchte sie übernehmen. Es passt, dass das Happy End der Verfilmung zynisch sein sollte:

Und so kommt zum guten Ende / Alles unter einen Hut. / Ist das nötige Geld vorhanden / Ist das Ende meistens gut. / Daß er nur im trüben fische / hat der Hinz den Kunz bedroht. / Doch zum Schluß vereint am Tische / Essen Sie des Armen Brot.

Dieser Film wurde 1931 ohne Brecht fertiggestellt – und wie es dazu kam, erzählt der Film, den Joachim A. Lang als Regisseur und Autor nun mit Lars Eidinger als Bertolt Brecht gedreht hat. Er bewegt sich dabei beständig zwischen verschiedenen Ebenen, erzählt die Geschichte vom Erfolg der Dreigroschenoper und der Auseinandersetzung Brechts und Weills mit der Filmfirma, zeigt aber zugleich auch die Handlung des geplanten Films, in der Mackie Messer (Tobias Moretti) Polly (Hannah Herzsprung) heiratet und sich damit in deren Vater Peachum (Joachim Król) einen gefährlichen Feind macht.

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So springt denn auch die Handlung vom Berlin der Zwanziger und Dreißiger Jahre ins Viktorianische London, schließlich auch in das London der heutigen Zeit. Im Widerspiel der verschiedenen Ebenen aber gibt es denn doch Identifikationsfiguren: Der eigentliche Gegenspieler des berechnend-gierigen Peachum ist hier Bertolt Brecht.

Peachum erzählt gleich bei seinem ersten Auftritt, dass es sein Geschäft sei, „das menschliche Mitleid zu erwecken“. Er tut dies nicht, wie es in der langen Tradition seit Aristoteles die Tragödiendichter tun sollten, zur kathartischen Reinigung der Zuschauer. Er berechnet ganz einfach, was den Menschen geboten werden muss, damit sie möglichst schnell bereit sind, den Bettlern möglichst viel Geld zu geben.

Diese Bettler sollten gar nicht tatsächlich notleidend sein. Einem Kriegsversehrten erklärt Peachum, dass seine reale Verletzung die ideale Wirkung nur stören würde und einer eigens hergestellten, erprobten Rolle weit unterlegen sei. Die Inszenierung des Opferdaseins ist allemal gewinnbringender, als tatsächlich ein Opfer zu sein.

In der Figur Peachum greift Brecht also auf klassische Eigenschaften des Künstlers zurück, macht daraus aber einen Geschäftemacher, der die Bettelei in London kontrolliert. Das Ziel der ästhetischen Illusion, die Peachum herstellt, ist es, so starke Eindrücke herzustellen, dass alle Reflexion umgangen wird, Menschen unmittelbar handeln und Geld spenden. Die Illusion tritt ganz an die Stelle aller sozialen Realitäten, die aber umso eindrucksvoller simuliert werden.

Das ist tatsächlich eben das Gegenteil dessen, was Brecht selbst als sein ästhetisches Programm beschreibt. „Der Zuschauer soll nicht auf den Weg der Einfühlung verwiesen werden“ – seine Irritation, das Durchbrechen der ästhetischen Illusion sind Programm, damit der Zuschauer selbst reflektieren und die Handlung auf die ihm bekannte soziale Realität beziehen muss.

In Peachum hat Brecht also einen Anti-Brecht konstruiert, und das nutzt nun der Regisseur Lang, um den Autor Brecht als Gegenpol seines skrupellosen Bettlerkönigs zu inszenieren.

Hätte Bertolt Brecht MeToo überstanden?

Glücklicherweise wird Brecht dabei nicht zu einer simplen Heldengestalt. Alle Sätze, die Eidinger in seiner Rolle sagt, sind belegte Äußerungen des realen Brecht. Gerade durch diesen Realitätsgehalt bekommt die Figur etwas Künstliches, weil Eidingers Brecht immer ein wenig schräg zu den Dialogen des Films redet und beständig so wirkt, als würde er Sentenzen zur Erbauung einer dankbaren Nachwelt formulieren.

So erscheint er eitel und selbstbezogen. Die Frauen, die ihn umgeben, sind wiederum beständig damit beschäftigt, ihm zuzuarbeiten: Seine Frau Helene Weigel (Meike Droste) ist mit der Renovierung der Wohnung beschäftigt, während Brecht im Gespräch ästhetisch-politische Positionen entwickelt – Elisabeth Hauptmann (Peri Baumeister) hat ihm nicht nur die Beggar’s Opera als Vorlage für die Dreigroschenoper aus dem Englischen übersetzt, sondern lektoriert auch seine Texte oder schreibt sie ihm vielleicht auch gleich selbst. Dass Brecht hier auch ein allseits akzeptiertes sexuelles Dreiecksverhältnis führt, wird im Film klar, ohne ausgespielt zu werden.

Ganz wie sein Mackie Messer (im Film Tobias Moretti) würde Brecht heute nicht durch seine politische Haltung, sondern durch dieses Verhältnis zu Frauen angreifbar. „Wer kocht ihn ab, der alle abkocht? Weiber“ – so wird Mackies Ende in der Ballade von der sexuellen Hörigkeit ausgesprochen gender-unsensibel beschreiben.

In Zeiten von #MeToo bräuchte der Frauennutzer und alte weiße Mann Bertolt Brecht gar nicht erst zu versuchen, seine politischen und ästhetischen Vorstellungen in Sentenzen zu gießen. Wer schon einmal genderpolitische Aufsätze oder Tweets gelesen hat, könnte ihn problemlos als Profiteur einer hegemonialen Männlichkeit enttarnen.

Die heute gängige mediale Verwandlung ganz unterschiedlicher politischer Fragen in Geschlechterfragen gehört zu einer Bewegung weg von der politischen Reflexion hin zur Ästhetisierung der Politik, die – ganz wie in Peachums Programm – unmittelbar an Gefühle appelliert und moralisierend grundiert ist. Sie ist wohl gegenwärtig eine der wichtigsten Spielarten des politischen Reflexionsverlusts. 

Das Verschwinden der Dialektik in den moralischen Gewissheiten

Von rechts wird der Topos sexueller Gewalt von Migranten gegen einheimische Frauen so selbstverständlich bedient, dass nicht einmal offensichtliche Fälschungen die Energie der aufgewühlten Gefühle dämpfen. Linke aber machen sich ähnliche Gefühle zunutze.

In Deutschland wurde gerade der unbequeme Leiter der Gedenkstätte für Stasi-Opfer in Höhenschönhausen entlassen. Der Vorwurf, den Vorwurf sexueller Übergriffigkeit seines Stellvertreters nicht ausreichend ernst genommen zu haben, appelliert so direkt an starke Gefühle, dass dahinter das eigentlich offensichtliche politische Interesse dieser Demission verschwindet.

Noch härter ist die Entwicklung in den USA. Die Vorwürfe gegen Brett Kavanaugh, er sei als Jugendlicher gegenüber einer Jugendlichen sexuell übergriffig gewesen, sprechen starke Gefühle so direkt an, und sie bedienen so irritationsfrei das etablierte Bild des männlichen Übeltäters und des hilflosen weiblichen Opfers, dass politische Reflexion ganz verschwindet – und zwar ausgerechnet bei den Demokraten, die sich doch traditionell für deutlich reflektierter halten als die republikanischen Rednecks.

Ich kann mich sehr gut noch daran erinnern, wie groß die demokratische Empörung (und übrigens auch meine) war, als in den neunziger Jahren Republikaner enorme öffentliche Mittel aufwandten, um sexuelle Verfehlungen des Präsidenten Bill Clinton aufzudecken – ganz offensichtlich, weil sie politisch nicht gegen ihn punkten konnten. Heute scheint sich kein Demokrat daran zu erinnern, dass die Vorwürfe gegen Clinton – so berechnend und schäbig motiviert sie auch waren – deutlich besser begründet waren, als es heute die Vorwürfe gegen Kavanaugh sind. Clinton hatte zweifellos seine Machtposition sexuell ausgenutzt.

Auf beiden politischen Seiten spricht die Auseinandersetzung starke Gefühle und Ängste direkt an: die Angst vor dem sexuellen Übergriff, aber auch die Angst, sexueller Übergriffigkeit beschuldigt zu werden und sich nicht verteidigen zu können. Beide Ängste sind nicht äquivalent – sie sind aber jeweils stark genug, um distanzierte Reflexionen zu verhindern.

Dabei kann niemand, der die Affäre von außen und gar nur durch die Medien kennt, entscheiden, ob Kavanaugh oder Christine Ford, die ihn des sexuellen Übergriffs beschuldigt, im Recht ist. Dass sie erst jetzt, Jahrzehnte nach der vorgeblichen Tat, darüber spricht, ist jedenfalls noch kein Beleg dafür, dass sie die Unwahrheit sagt.

Nur: Wie sollte damit ein gültiges Verfahren der Besetzung von Positionen aufrechterhalten werden können? Eigentlich müssten auch die entschiedensten Gegner Kavanaughs einräumen, dass die Besetzung öffentlicher Posten unmöglich gemacht wird, wenn plötzlich erhobene und längst nicht mehr beweisbare – aber eben auch nicht widerlegbare – Vorwürfe jahrzehntealter Vergehen einen Ablehnungsgrund darstellen.

Die Ästhetisierung des Politischen in moralisierend grundierten Appell an starke Gefühle lässt die so wichtige distanzierte politische Reflexion als kalt und gefühllos dastehen.

Vor allem aber verliert die Linke hier etwas, was ihr lange Zeit – und ganz gewiss zu Zeiten Brechts – Orientierung geboten und gesellschaftspolitische Analysen erleichtert hat: nämlich einen Sinn für Dialektik. Im dialektischen Denken können sich zwei Seiten gegenüber stehen, beide jeweils Gründe für sich haben, aber zugleich beide falsch und gar inhuman sein – weil sie die Gründe der jeweils anderen Seite nicht anerkennen.

Eine humanere Position ist dann weder auf der einen noch auf der anderen Seite, sondern nur durch eine Überwindung beider Seiten und ihrer Widersprüche möglich.

Die empörte Verteidigung Kavanaughs blendet aus, dass die Affäre Erfahrungen der sexuellen Übergriffigkeit durch Stärkere anspricht, die für viele Menschen tatsächlich enorm belastend sind und über die möglicherweise sehr schwer zu sprechen ist. Die aufgewühlten Angreifer Kavanaughs blenden aus, dass auch sie selbst ein legitimes Interesse daran haben, dass massive Beschuldigungen gegen sie auch belegt werden müssen, und dass die Gesellschaft insgesamt ein dringendes Interesse an geordneten Verfahren zur Besetzung von Funktionsposten hat.

Kennzeichnend für eine solche antagonistische Situation ist die Aussage Hillary Clintons, niemand könne zivilisiert gegenüber einem Gegner sein, der alles zerstören wolle, was ihm wichtig ist.  Der einst durchaus intakte linke Sinn für Dialektik ist längst einem Denken in schroffen, simplen, aber eben auch angstbesetzten Freund-Feind-Bildern gewichen.

Die Produktion von Unschuld und die Ästhetik des Faschismus

Dabei sind die vermeintlichen Gegenspieler in Brechts Stück, in Langs Film und auch in der heutigen politischen Realität einander sehr ähnlich. Weder steht eine ehrbare gute Gesellschaft einem skrupellosem Verbrecher gegenüber, noch wird ein korruptes Establishment von einem tapferen Revolutionär herausgefordert. Der Massenmörder Mackie Messer verwandelt sich am Ende des Films gemeinsam mit seinen Kumpanen in anzugtragende graue Herren, die aus Michael Endes „Momo“ stammen könnten. Nicht das Brechen, sondern das Anwenden der Gesetze würde unverwundbar machen: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“

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Die gute Gesellschaft assimiliert jedoch nicht nur den Verbrecher, sondern ebenso leicht den politischen Widerstand. Brechts juristischer Kampf gegen die Produktionsfirma seines Films sollte – so zumindest stellt das Lang heute dar – die politische Spitze der Dreigroschenoper schärfen und verhindern, dass aus dem Stück der Kapitallogik der Firma entsprechend ein gewinnbringend gefälliger Musical-Film wird. Brecht verliert: Was als Subversion gegen die bestehende Gesellschaft gerichtet war, wird Teil von ihr, als Kitzel und als Zeitvertreib.

Das ist nicht nur ein historischer Rückblick, sondern ein aktueller politischer Kommentar. Akteure in etablierten Institutionen haben sich längst klassisches linkes Vokabular angeeignet, können sich herrschaftskritisch geben, sich als Vorkämpfer gegen Diskriminierungen darstellen und als Kämpfer für die Marginalisierten verkaufen. Die Fassadenhaftigkeit dieser linken Terminologie zeigt sich eben darin, dass der Kampf gegen die Unterdrückung heute nicht die ökonomische oder gesellschaftspolitische Analyse voraussetzt, sondern sich auf leicht fassbare biologistische Kriterien stützt, auf Rasse und Geschlecht.

Wenn dann etwa die Spitzenkandidatin der bayerischen Grünen gegen „alte weiße Männer“ austritt, kopiert ihr Agieren mit Ressentiments die Politik des rechten Gegenstücks, wirkt aber irgendwie aufgeklärt,  emanzipatorisch und unschuldig.

Die naiv wirkende, dann praktisch denkende, nette Polly in der Dreigroschenoper lässt sich erst von ihrem Vater, dem Verbrecher Peachum, dann von ihrem Ehemann, dem Verbrecher Mackie, versorgen. Unschuld wird dadurch produziert, dass die Schuld ausgelagert wird: Diesen Aspekt hat Brecht in „Der gute Mensch von Sezuan“ noch vertieft.

Peachum wiederum droht damit, gegen die Krönungsfeierlichkeiten seine Armee von Bettlern aufmarschieren zu lassen. In der realen Politik der realen USA haben die Demokraten bis heute nicht verwunden, dass die fest eingeplanten Krönungsfeierlichkeiten von Queen Hillary ausfielen, weil Donald Peachum Trump seine „bags of deplorables“ gegen Clinton ins Feld führte. Der sich gegenwärtig radikal zuspitzende Antagomismus in der amerikanischen Politik speist sich eben auch davon, dass tatsächlich keine der beiden Seiten eine Perspektive für eine humane Politik zu bieten hat.

Kunst dient hier lediglich als Illustration der immer schon unbezweifelbar richtigen politischen Positionen, ohne dass sie eine Reflexion erlauben würde. Es ist Gebrauchskunst, wie das Make Up auf Peachums Bettlern. Wenn etwa nun in New York kleine Statuen von Trump in ihrer Inschrift ausdrücklich dazu auffordern, die Büste des Präsidenten anzupinkeln – dann hat das offenkundig nicht das Ziel, zur Reflexion über die Verrohung politischer Debatten aufzufordern, sondern ist lediglich eine platte Wiederholung ohnehin schon bestehender politische Feindschaft.

Brechts Unterscheidung zwischen einer Kunst, die politische Reflexion ermöglicht, und einer Kunst, die Politik lediglich einkleidet, hat ein anderer Autor seiner Zeit auf den Punkt gebracht. In Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit stellt Walter Benjamin die „Politisierung der Kunst“, die den schönen Schein irritiert und die so zur politischen Reflexion beiträgt, der „Ästhetisierung der Politik, welcher der Faschismus betreibt“, gegenüber.

Diese Ästhetisierung des Politischen verkauft Politik, indem sie an starke, moralisierend gegründete Emotionen anknüpft und so Distanzierungen und Reflexionen verhindert.

Eine bittere Pointe: Wenn die Darstellung der Süddeutschen Zeitung richtig ist, hat ausgerechnet das einst von Brecht gegründete Berliner Ensemble gerade ein Stück inszeniert, dass dieser Beschreibung bedrückend und beeindruckend entspricht. Simons Stones „Griechische Trilogie“, von der SZ als „’MeToo’-Solidaritätsadresse“ präsentiert, lässt Männer als jämmerliche, unselbständige ehemalige Machthaber erscheinen, die schließlich von den starken Frauen „in einem Akt der Befreiung fachgerecht massakriert (werden) – sozusagen Rache für 5000 Jahre Patriarchat.“

Das bedient Gewaltphantasien, aber bestätigt zugleich gedankenlos längst etablierte Ressentiments einer längst etablierten Politik. Es ist keine Kunst, die Politik herausfordert, sondern eine, die Politik bestätigt, verdoppelt und verkauft.

Eine Ästhetisierung von Politik, wie sie nach Walter Benjamin der Faschismus betreibt.

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