Beginnen wir mit etwas Lustigem. Ich bin ein Freund von ‚Schotts Sammelsurium‘ und gehöre tatsächlich zu denen, die das Buch von vorne bis hinten durchgelesen haben. Es ist einfach zu komisch.
Ich weiß nicht genau, worin da der Witz liegt, aber das heillose Nebeneinander hat mich immer wieder zum Lachen gebracht: Da stehen meldepflichtige Krankheiten neben Todesarten burmesischer Könige; da gibt es Listen von Schutzheiligen, von Primzahlen und von Weltwundern; da sind Listen von allen Autos, die in James-Bond-Filmen vorkommen und es gibt eine Auswahl von berühmten Belgiern. Alles direkt nebeneinander. Ich weiß nicht warum: it’s somehow funny.
Vergnügen bereitete mir auch Oliver Kuhns ‚Alles, was ein Mann wissen muss‘, wo ich ein Verzeichnis der Fußballer des Jahres neben einer Liste berühmter Hochstapler und politischer Attentäter finde; da stehen die zehn Gebote neben den zehn ägyptischen Plagen direkt neben dem aktuellen Bußgeldkatalog. Aus dem ‚Handbuch des nutzlosen Wissens‘ von Hanswilhelm Haefs weiß ich, dass in der Bibel kein einziges Mal das Wort „Katze“ vorkommt; und in dem unentbehrlichen Standartwerk ‚Ein Mann. Ein Buch‘ kann ich nachschlagen, wie man Krawatten bindet, Flugzeuge notlandet und sich im Gefängnis angemessen benimmt. Das ist gut zu wissen. Ich sehe mich bei so einer Lektüre sogleich als Experte für alles und nichts und habe ein gefühltes Bollwerk gegen lästige Besserwisser und Rechthaber – ja, allein das Blättern in solchen Büchern bereitet mir ein stilles Vergnügen.
Vielleicht fängt der Jux schon mit dem Begriff Juxtaposition an, mit der das unmittelbare Nebeneinander von Dingen, die nicht in Beziehung zueinander stehen, bezeichnet wird. Ein wenig von so einem Jux habe ich auch in meinem nach ABC geordneten Bücherregal, in dem sich Hans Magnus Enzensberger neben Heinz Erhardt und Groucho Marx neben Karl Marx finden. Doch das ist nur mein kleines Bücherregal. Im Internet geht die Party erst richtig los – und nimmt kein Ende. Der digitale Kramladen hat keine geregelten Öffnungszeiten, da ist alles jederzeit verfügbar. Bei Wikipedia finde ich Glasperlen neben Diamanten; ich kann, wenn ich will, bei Shakespeare nachschlagen oder nachgucken, wie die einzelnen Mitglieder der zu recht in Vergessenheit geratenen Popgruppe Tremeloes heißen. Alles geht.
Ich habe dann das wohlige Gefühl, ein gut synchronisierter Zeitgenosse zu sein, verloren im Kosmos der Willkürlichkeit, in einer „schlechten Unendlichkeit“, wie es Hegel vermutlich nennen würde, aber das müsste ich noch mal googeln bzw. googlen (und würde damit womöglich an die Grenzen der Möglichkeiten des Internets geraten).
Doch man kann nicht immer nur Spaß haben. Man muss irgendwann zurückfinden zum alltäglichen Jammern und Wehklagen – zurück zum zeitgemäßen Leiden. Ich leide auch. Ich leide unter Selachophobie. So nennt man die Angst vor Haifischen, und die gehört zu den 42 Phobien, die in ‚Schotts Sammelsurium‘ aufgeführt werden. Zum Glück leide ich nicht unter Philematophobie (Angst vor Küssen) oder unter Keraunothnetophobie (Angst vor herabstürzenden Satelliten). Aber – so sehr ich das Buch, das großen Wert auf Vollständigkeit legt, auch schätze – ich vermisse in der Sammlung zwei Phobien, und das sind ausgerechnet die, die heutzutage besonders häufig genannt werden: die Homophobie und die Islamophobie. Vielleicht kommen sie in einer Neuauflage dran.
Vielleicht auch nicht. Womöglich gehören sie überhaupt nicht auf die Liste. Vielleicht sind es gar keine richtigen Phobien. Vielleicht verwenden alle, die von Homophobie und Islamophobie reden, falsche Ausdrücke. Möglich ist es. Es müssen sowieso ganz besondere Phobien sein. Ich habe mich schon oft gefragt, was die Herrschaften, die einem so eine Phobie unterjubeln wollen, eigentlich erwarten. Wie stellen die sich das vor? Kann man neuerdings eine Phobie erfolgreich bekämpfen, indem man die armen Leute, die angeblich eine haben, beschimpft und bestraft? Kann der Betroffene dann, sofern er einsichtig ist und den Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen will, seine Phobie einfach ablegen wie ein T-Shirt, das dreckig geworden ist? Wie sieht es überhaupt mit Therapiemöglichkeiten aus? Schickt man beispielsweise einen klaustrophoben Menschen kurzerhand zur Behandlung in einen dunklen Bergstollen? Wenig später krabbelt er wieder raus und verkündet erleichtert: Och, war gar nicht so schlimm, wie ich gefürchtet hatte!
Ich dachte immer, mit einer Phobie wäre man ein waschechtes Opfer. Wie jemand, der behindert ist oder einen Migrationshintergrund hat. Damit wäre man förderungswürdig, könnte sich jegliche Diskriminierung verbitten und könnte bei Hilfsorganisationen nachfragen, welche Rechte einem zustehen. Man könnte außerdem Trigger-Warnungen erwarten, vorgeschriebene Warnhinweise und Schutzräume. Und was ist? Nichts ist. Es wird einem eine Phobie als Vorwurf um die Ohren gehauen, als wäre man ein Raucher! Ein Täter!
Es ist nicht bloß eine mittelschwere oder gar schwergewichtige Unhöflichkeit, es ist mehr: Es ist eine Frechheit, ein Übergriff, eine Boshaftigkeit, eine Attacke. Damit wird man, ohne dass es auffällt, zum Kranken erklärt; und der selbsternannte Phobie-Experte gibt in dem absurden Laienspiel den selbstgefälligen Onkel Doktor mit dem weißen Kittel und der blütenweißen Weste. Aber – eine Frage zwischendurch – hat dieser Doktor überhaupt eine Lizenz? Weißt er, ob eine Phobie angeboren oder sozial konstruiert ist? Ich glaube, dass jeder, der sich in ‚Schotts Sammelsurium‘ die Liste mit den 42 Phobien angesehen hat, mehr von Phobien versteht, als derjenige, der sich aggressiv mit dem Vorwurf „Homophobie“ zu Wort meldet. Vielleicht sollte ich noch mal in der Liste der berühmten Hochstapler nachgucken, ob sich da Beispiele von falschen Doktoren finden, die sich der Volkshygiene verschrieben und sich auf Phobien spezialisiert haben.
Jedenfalls kann ich von einem Quacksalber, der gesunden Zeitgenossen eine vermutlich nur schwer heilbare Krankheit namens Homo-Phobie anhängen will, nicht ernsthaft erwarten, dass er auch noch mit guten Argumenten kommt. Höchstens mit teuren Rezepten. Oder mit der Spritze. Mit der Giftspritze. Er ist schließlich selber die Verkörperung einer Giftspritze.
Es ist nicht lustig. Als ich einmal ahnungslos das Fernsehen einschaltete, geriet ich in eine Comedy-Show, in der ein Scherzbold mit Witzen auftrumpfte, die nicht mein Geschmack sind. Ich konnte mit Erstaunen zusehen, wie er sich im Beifall sonnte; er sagte, dass er nicht daran glaube, dass Homosexualität eine Krankheit ist. Denn wäre es eine Krankheit, so spekulierte er weiter, dann gäbe es bestimmt längst eine rezeptfreie Pille dagegen. Kleine dramatische Pause, damit die Pointe besser sitzt: „Äh, ich meine, ein Zäpfchen.“
Ich kann gut verstehen, dass man nicht als krank bezeichnet werden möchte. Wir kennen das womöglich vom Streiten. Manchmal nimmt ein Streit, der bereits böse angefangen hat, ein bitterböses Ende. Dann sagt jemand: „Du bist krank“. Er sagt damit zugleich, dass er dir erst wieder zuhören wird, wenn du gesundet bist. Vermutlich nie mehr. Jemanden als krank zu bezeichnen, ist im ursprünglichen Sinne des Wortes kränkend. Besonders dann, wenn es nicht der Arzt deines Vertrauens ist, der so etwas sagt, sondern jemand, der schon durch seine Ausdrucksweise deutlich macht, dass man ihm nicht vertrauen kann. Ein erfahrener Arzt weiß, wie er einem Patienten schonend etwas beibringen kann. Ein Arzt will helfen. Er will nicht krank machen. Doch wie ist bei denen, die per Ferndiagnose Homophobie attestieren? Was wollen sie? Wollen sie einfach nur Aufmerksamkeit? Wollen sie andere krank machen? Wollen sie eine bessere Welt oder eine schlechtere?
Was ich gut verstehen, jedoch nicht gutheißen kann, ist, dass heute die aktiven Sprecher der Homo-Lobby und die betroffenen Schwulen anderen genau das antun wollen, worunter sie selber einst gelitten haben. Ich verstehe es so, dass sie das Unglück vergrößern wollen. Solche Leute gibt es. Denn man muss sich schon fragen: Warum kränken sie vorsätzlich? Warum wollen sie andere zu Kranken erklären? Sie müssten doch wissen, wie es sich anfühlt, wenn man „krankgesagt wird (ich habe das hier ausnahmsweise in einem Wort zusammengefasst wie „totgesagt“). Nehmen wir an, jemand hätte Herpes – und leidet darunter. Ist es dann für ihn eine Genugtuung, wenn andere auch leiden müssen? Möchte er dazu beitragen? Das möchte er. So verstehe ich das.
Es gibt solche Leute. Ich kenne selber ein oder zwei solcher Zeitgenossen, denen ich unterstellen muss, dass sie ihr eigenes Unglück unbedingt an andere weitergeben wollen. Auch ein Beobachter wie Alexis de Tocqueville, der mit Sympathie die Entwicklung der Demokratie in Amerika im Anfangsstadium beobachtet hat, hatte Bedenken. Er fürchtete, dass es eine Angleichung in der Schwäche geben könnte und eine niedere Gerechtigkeit angestrebt wird.
Ich kann nicht von allen – auch nicht, wenn es sich um Provinzpolitiker handelt – annehmen, dass sie einfach nur besinnungslos drauflosplappern und sich nicht im Klaren darüber sind, was die Begriffe, die sie verwenden, eigentlich bedeuten (es wäre auch keine Entschuldigung). Ich muss vielmehr annehmen, dass fast alle von denen, die polternd von „Homophobie“ sprechen, es auch absichtlich tun. Bewusst. Lustvoll. Sie wollen wehtun. Sie wollen nicht nur ein bisschen sticheln, sie wollen richtige Stiche versetzen. Sie wollen verletzen. Wollen sie dafür auch noch gemocht werden?
Wie glauben sie eigentlich, wie die Gekränkten reagieren? Sollen sie sofort den Schwanz einziehen (um einen Ausdruck zu verwenden, den sie womöglich verstehen)? Wie könnten sie überhaupt beweisen, dass der Vorwurf, der gegen sie erhoben wird, unberechtigt ist und dass sie in Wirklichkeit gar nicht homophob sind? Reicht es, ein Bekenntnis abzulegen? Genügt es, wenn man auf schwule Freunde verweisen kann, die sich für einen verbürgen? Oder muss man sich zuerst einmal – woher auch immer – ein Gesundheitszeugnis besorgen, damit man wieder am Dialog teilnehmen darf?
Merken denn die Leute, die so giftige Worte in den Mund nehmen, nicht, dass sie die Aversionen, die ihnen entgegenschlagen, selbst herbeigeredet haben? Ein Ausdruck wie „Homophobie“ verursacht Mundgeruch. Wer so redet, darf sich nicht wundern, wenn man ihn nicht mag. Wer anderen Homophobie nachsagt, greift sie an und betreibt üble Nachrede. Bekämpft man so die Homophobie, wie es gerne gesagt wird, oder bekämpft man damit Menschen?
Also: Lassen wir uns von Hobby-Krankmeldern nichts anhängen. Keine Hysterien, keine Geisteskrankheiten – und erst recht keine Phobien, die (wie ich schnell noch mal in ‚Schotts Sammelsurium‘ nachgeguckt habe) nicht meldepflichtig sind.