Die linken Aktivisten, die Weißen eine kollektive, privilegierte Identität zuschreiben, sind nicht weniger irrational als die Rassisten, die sie bekämpfen.
Der Anblick der Neonazis, die am 12. August durch die Straßen von Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia marschierten, zeigt: Die Altlasten unserer Vergangenheit lassen uns nicht los. Oft drängen sie sich uns auf unerwartete und verwirrende Weise auf.
Die Nationalisten und Kämpfer für die Vorherrschaft der Weißen, die derzeit in den Vereinigten Staaten eine Wiedergeburt erleben, sind ein gutes Beispiel dafür. Anders als ihre Vorgänger sind die Rechtsextremen des 21. Jahrhunderts kaum in der Lage, das Wort „Vorherrschaft“ zu buchstabieren – und schon gar nicht fühlen sie sich wirklich anderen Menschen überlegen. Tatsächlich spielen sie sogar häufig die Opferrolle; wohl wissend, dass sie in unserer Gesellschaft soziale, wirtschaftliche und kulturelle Außenseiter sind. Verzweifelt durchsuchen sie die Vergangenheit nach Symbolen und Parolen, die ihrer Existenz einen Sinn geben könnten. Die Folge sind die bizarren Aufmärsche in Charlottesville, wo sich weiße Nationalisten an alte Nazi- und Südstaaten-Flaggen klammerten und im Chor „Heil Trump“ riefen. Sie erinnern an Marx’ altes Diktum, dass Geschichte sich wiederholt – das erste Mal als Tragödie und das zweite Mal als Farce.
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Weiße Rassisten sind offensichtlich nicht mehr das, was sie einmal waren. Das ist nicht sonderlich überraschend. Die Vorstellung der „weißen Überlegenheit“ wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs begraben. Sogar Politiker, die an die Überlegenheit des Westens glaubten, gebrauchten zögerlich die Rhetorik der Rassengleichheit. Seit den 1960er-Jahren gilt der allgemeine Konsens, dass Rassismus in der Öffentlichkeit nichts mehr zu suchen hat. Frantz Fanon, ein linker Philosoph und Vordenker der Entkolonialisierung aus Martinique, sagte damals, dass der Rassismus nur noch getarnt daherkomme. Obwohl also rassistische Vorurteile in einigen weißen Gemeinschaften fortbestanden, waren diese Ideen gesellschaftlich diskreditiert und hatten keinen wesentlichen Einfluss auf das öffentliche Leben mehr.
„‚Weißsein‘ ist heute eine Art Erbsünde – und weißer Rassismus unausweichlich.“
Paradoxerweise wurde die Rassismus-Debatte ausgerechnet in den 1980er-Jahren neu entfacht, also in einer Zeit, in der weiße Überlegenheitsvorstellungen verschwunden schienen. Antirassistische Aktivisten, allen voran Anhänger der sogenannten kritischen Rassentheorie (Engl.: critical race theory), verkündeten, dass Rassismus in der Gesellschaft weiter verbreitet sei als jemals zuvor. Andere behaupteten, dass alle Weißen zumindest unterbewusst rassistisch seien. Von diesem Zeitpunkt an begannen Akademiker den Begriff „Weißsein“ (Engl.: Whiteness) zu verwenden, um die vermeintlich privilegierte Stellung von hellhäutigen Individuen zu beschreiben.
Das Konzept des „Weißseins“ macht aus rassistischem Denken eine unbewusste Handlung. Kein weißes Individuum kann sich also von dem Vorwurf befreien, rassistisch zu sein. Diejenigen, die sich gegen den Vorwurf wehren oder sich nicht einmal als „weiß“ wahrnehmen, werden dafür verurteilt, ihre Privilegien als Weiße zu verleugnen. „Weißsein“ ist heute eine Art Erbsünde – und weißer Rassismus unausweichlich.
In den letzten Jahrzehnten ist dieses Konzept aus dem akademischen Umfeld in die Mainstream-Medien eingesickert. Die Folge: eine neue Form der weißen Identität, die mit moralischer und kultureller Minderwertigkeit verbunden wird. Kein Wunder also, dass das Wort „weiß“ in der Populärkultur oft mit einem spöttischen Unterton belegt wird.
„Diejenigen, die mir pauschal eine weiße Identität aufzwingen wollen, wissen gar nichts über mich.“
Ich musste mir schon zahlreiche Vorträge zu meinen vermeintlichen „weißen Privilegien“ anhören. Trotzdem fühle ich mich immer noch nicht besonders weiß. Selbst 1971, als ich ein Jahr lang Feldforschung in Kenia betrieb, sah ich mich in erster Linie als Forscher und nicht als Weißer. Es gab Zeiten, zu denen ich mich ein bisschen ungarisch gefühlt habe, manchmal ein bisschen jüdisch, sogar etwas kanadisch – ich habe einen Teil meiner Kindheit in Kanada verbracht –, aber noch nie habe ich mich weiß gefühlt.
Anhänger der Weißseinsforschung würden sagen, dass das an meiner unbewussten rassistischen Annahme liegt, Weißsein sei die Norm. Die Realität sieht anders aus. Dass ich mich als Mann – und nicht als weißen Mann – betrachte, liegt an meinen Lebenserfahrungen. Diejenigen, die mir pauschal eine weiße Identität aufzwingen wollen, wissen gar nichts über mich. Es ist ihnen egal, dass sie die Persönlichkeit eines Individuums verletzen, wenn sie ihm von außen eine bestimmte Identität auferlegen wollen. Ihr Denken erinnert paradoxerweise an das der Kolonialisten. Diese haben den Einheimischen wegen ihrer Rasse einen minderwertigen Status zugeschrieben.
Es gibt drei Möglichkeiten, wie auf die Verteufelung des „Weißseins“ reagiert werden kann. Die erste Möglichkeit ist, sich als ‚sensibilisierte‘ weiße Person zu geben, die sich ihrer Vorurteile und Privilegien bewusst ist. Dieser Ansatz ist in amerikanischen und zunehmend auch in europäischen Bildungseinrichtungen verbreitet. Eine andere Möglichkeit ist eine defensive Überidentifikation mit der weißen Identität. Dieser Ansatz der weißen Nationalisten blendet aus, dass das Konzept einer „weißen Identität“ gerade zu dem Zweck entwickelt wurde, dass Weißsein abzuwerten.
Aber es gibt auch eine dritte Möglichkeit: den humanistischen und aufgeklärten Ansatz. Dieser erfordert, dass wir uns weigern, die voranschreitende Rassifizierung der Gesellschaft zu akzeptieren. Im Grunde genommen ist die Idee des „Weißseins“ so irrational wie die des weißen Nationalismus. Die beiden Begriffe existieren in einer symbiotischen Beziehung und begünstigen die Politisierung der Rassenidentität. Natürlich sind die Rechtsextremen, die in Virginia auf die Straße gingen, in vollem Umfang für das Leid verantwortlich, dass sie ihren Mitmenschen zugefügt haben. Doch im Hintergrund wirkt eine Kraft, die potentiell viel zerstörerischer ist: Die Rassifizierung der menschlichen Identität.