Die AfD als antagonistischer Ausdruck einer ostdeutschen Identitätskrise

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Der Wahlerfolg der AfD kann als emotionaler Befreiungsschlag der sich jahrelang aufgestauten, unterdrückten und unfähig zu artikulierenden Frustration der Ostdeutschen verstanden werden. Es ist eine Befreiung vom sich selbst als absolut gesetztem hypermoralisierenden, kollektiven Willen, dessen fehlender, lebensnotwendiger Antagonist neu erfunden werden musste. Ob dieser im Gewand des Nationalismus oder der Ausländerfeindlichkeit erscheint, oder in einem Alternativen zu diesem alternativen Gewand bleibt uns überlassen.

Wen die hohen Wahlergebnisse der AfD im Osten mit einer eruptiven Heftigkeit erschlugen, die die Zeiger des Seismographen zum erratischen Tanz veranlassten, ist lapidar gesprochen – Verzeihung – ein Ignorant. Ein Ignorant, der nicht in die Welt, sondern in sich hinein blickt. Ein Ignorant, der mit einer geistigen und emotionalen Immunität für die Zeichen der Zeit, respektive für die sich langsam westwärts aufschäumenden Welle ausgestattet ist.

Der 24. September diesen Jahres war nämlich die langersehnte Möglichkeit einer Artikulation. Jener Artikulation der sich seit 27 Jahren angestauten Emotionen von Ärger und Wut, von Resignation und Verzweiflung, über das namentlich vereinte, aber de facto weiterhin geteilte Deutschland.

Der sich unter anderem dem Körperkult huldigende Westen machte es sich die letzten Jahre unter seinen Kopfhörern und seiner Schlafmaske in den Abteilen der ersten Klasse zu gemütlich, während der kranke Osten – von den Geldspritzen des Westens betäubt und fixiert, aber nicht geheilt – neidisch zu ihm aus der zweiten Klasse hinaufschaute. Hin und wieder traten erratische Eruptionen als Ausdruck einer Identitätsdiffusion auf, die aber verteilt und asynchron auf der Bildfläche erschienen, und genauso schnell wieder verschwanden. Der sedierenden Wirkung des Wacholderschnaps sei Dank für diese nur kurzzeitig auftretenden, ekzematischen Verwirrungsschübe auf den Spuren der Identitätssuche durch den Thüringer Wald.

Erst die AfD ermöglichte – was die LINKE nicht schaffte – eine Kanalisierung und somit einen symbolischen Ausdruck dieser östlichen Identitätskrise bis hin zu einer emotionalen Katharsis, die mit dem Einzug der AfD in den Bundestag kulminierte. Durch sie entstand eine Projektionsfläche, durch die der Osten aus seiner verbalen Starre gelöst wurde und seine Gefühle – wenn auch nicht treffend, aber immerhin – artikuliert wurden. Deswegen vermutlich auch die Wucht, mit welcher ihre Expression aufkam. Gewissermaßen ein emotionaler Befreiungsschlag der sich jahrelang aufgestauten, unterdrückten und unfähig zu artikulierenden, frustrierenden Suche nach dem „Wir“.

Es waren die Gegensätze die beunruhigten. Die zwischen Ost und West, die zwischen Wort und Tat, die zwischen Konkretem und Abstraktem. Aber noch viel frustrierender war die kategorische Leugnung dieser Unterschiede, ja die politische und mediale Propagierung eines harmonischen Verhältnisses. Eines harmonischen Verhältnisses des einen „Wir“, das diametral zur von Zerrissenheit und Individualisierung durchzogenen Wirklichkeit steht – inklusive einer ignorierten und nicht therapierten östlichen Identitätsproblematik.

Dieses andauernd propagierte harmonische „Wir“ ist aber nur ein Utopisches, ein Ideales: Das „Wir“ der nationalen Gemeinschaft. Das „Wir“ des kollektiven Willens. Das „Wir“ der supranationalen Weltverschwisterung (Verbrüderung darf man ja nicht mehr sagen, zu sehr wird es mit expansivem und aggressivem Verhalten assoziiert!). Trotzdem wird es aufdringlich inflationär in den politischen Mund genommen. „Wir schaffen das!“

Es erinnert ein bisschen – in euphemisierender Form verpackt – an einen Ausspruch aus dunkleren Zeiten der deutschen Geschichte: „Du bist nichts, das Volk ist alles!“ Dem „Wir“ wird, wie dem „Volk“, eine heilende, allmächtige Wirkung der Vereinigung doch so unterschiedlichster Kräfte auf Kosten des Individuums, oder wie heute zum Nachteil partikularer Bewegungen, unterstellt. Es soll DAS ultimative, integrative Klebemittel sein, dem kein Antagonist gegenübersteht. Stattdessen verabsolutiert sich das „Wir“ und füllt den ganzen Raum, auch den der Differenz. Indem es das „Sie“ nicht beachtet, nicht thematisiert, nicht ernst nimmt, wird es zum alleinigen Platzhalter.

In dieser „wir“ren Integrationsutopie der globalen Moralisten hat das Partikulare keinen Platz. Es wird ausgeschaltet, ja gleichgeschaltet und so dem kollektiven, hypermoralisierenden Willen des „Wir“ untergeordnet. Leute, die gegen Ausländer sind, gibt es nicht. Leute, die für Atomkraft sind, gibt es nicht. Leute, die existentielle Probleme haben, gibt es nicht. Alles was nicht in den kollektiven Willen passt, gibt es nicht. So lässt es sich gut und gerne leben.

Diese durch eine hegemoniale Dominanz charakterisierte äußerliche Spannung und die hiermit einhergehende Unterlegenheit spürte man zunächst im identitätssuchenden Osten. Umso mehr, als dieser Veräußerung eine Verinnerlichung hinzutrat, die in einer Entfremdung von der Wirklichkeit und somit in einer existentiellen Obdachlosigkeit mündete. Innerer und äußerer Wertekompass schlugen wild um sich umher. Orientierungslos, entgegengesetzt, verwirrt.

Bis eine Alternative, die AfD, kam und sich aus den Fängen des „Wir“ befreite, sich als starken Antipoden dieses „Wir“ inszenierte. Als einheits-, insbesondere identitätsstiftendes Moment des Differenten, des Anderen versprühte sie ein Gefühl der Zugehörigkeit, wonach sich viele nach einer Zeit der Odyssee, einer Zeit ohne Telos und ohne Perspektive, sehnten. Die AfD ergriff diese Chance und füllte diese Lücke, die die etablierten Parteien im Rausche ihres Moralismusmantras nicht wahrnehmen wollten und nicht im Stande waren zu füllen.

Wie die Sehnsucht nach der schützenden, geborgenen Umarmung der Mutter in Zeiten des Umbruches, der Unsicherheit steigt, wird der Schrei nach der wärmespendenden, grenzsetztenden und zugleich einenden Mauer der identitätsstiftenden Nation immer lauter. Das „Wir“ erschafft sich sein fehlendes, existentielles „Sie“ der Zugehörigkeit, dessen romantische Nostalgie à la „früher war alles besser“ als Symptom einer tiefgreifenden Krisis zu verstehen ist, als Krisis einer pervertiert überbetonten erfolgs- und leistungsorientierten Gesellschaft.

Die warme, einlullende Glaskugel dieser pazifistischen Hypermoralutopie ist in ihrer Abschottung und ihrem expansiven Mantra nicht mehr sicher. Erste Risse verteilen sich langsam über sie. Risse des Protestes, Risse des Nationalismus. Doch bis das Glas der Harmonie endgültig zerspringt, ist es noch nicht zu spät. Mit dem richtigen Werkzeug, dem der Antithetik, kann der Schaden behoben werden. Behoben, dass aus Rissen Spalten, aus Spalten Kluften und aus Kluften Scherben werden. Behoben, dass unsere Gesellschaft zu einer Gesellschaft im Scherbenhaufen wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer Differenz von „Wir“ und „Sie“ ist der Klebstoff, der den Scherben der Disharmonie den Weg versperrt.

Auf politisch-debattierender Ebene bedeutet dies das notwendige Erwachen des hitzigen Schlagabtausch, des polarisierenden Diskurses aus ihrem Dornröschenschlaf. Gerade dieser fehlende wortgewaltig antagonistische Austausch des hitzigen Wortes exemplifiziert das einheitsstiftende Moment, und nicht der supranationale, verschwisterte Wille, wie es die Hypermoralisten propagieren. Das leidenschaftlich Trennende ist paradoxerweise das vernünftig Einigende.

Ob dieses Differente inhaltlich mit nationalistischen oder ausländerfeindlichen Gedanken gefüllt wird, oder mit einer Alternativen zu dieser Alternative, bleibt uns überlassen . Füllmaterial liefert uns die Welt – wie das politische Geschehen tagtäglich zeigt – zu Genüge. Faktum ist und bleibt, dass die Zeit nach einer den Antagonismus lückenfüllenden Alternativen ruft und sich gegen die vereinnahmende Verabsolutierung des „Wir“ auflehnt.

Diese Auflehnung erleben wir gerade. Es ist eine Auflehnung des partikularen, individuellen Willens gegen den hypermoralisierenden, kollektiven Willen. Es ist eine Auflehnung von „Wir“ gegen „Sie“. Es ist eine Auflehnung des vergessenen „Ostens“ gegen den selbstvergessenen „Westen.

Aber bleiben wir optimistisch: „Wir schaffen das“!

Der Beitrag erschien zuerst bei „Der vierte Karenztag“

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