Bekanntermaßen hat das Bildungssystem in Deutschland wie in anderen Ländern das selbstgesetzte Ziel, Schüler individuell nach ihren Neigungen und ihrem Leistungsvermögen zu fördern.
So heißt es beispielsweise in Absatz 2 von §1 des Schulgesetzes von Nordrhein-Westfalen:
„Die Fähigkeiten und Neigungen des jungen Menschen sowie der Wille der Eltern bestimmen seinen Bildungsweg. Der Zugang zur schulischen Bildung steht jeder Schülerin und jedem Schüler nach Lernbereitschaft und Leistungsfähigkeit offen“.
Und in Absatz 2 von §48 desselben Schulgesetzes heißt es weiter:
„Die Leistungsbewertung bezieht sich auf die im Unterricht vermittelten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Grundlage der Leistungsbewertung sind alle von der Schülerin oder dem Schüler im Beurteilungsbereich ‚Schriftliche Arbeiten‘ und im Beurteilungsbereich ‚Sonstige Leistungen im Unterricht‘ erbrachten Leistungen“.
Die Belege dafür, dass diese Prinzipien in der Praxis häufig verletzt werden und die Leistungsbewertung durch andere Eigenschaften der Schüler als durch deren Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sie im Unterricht erworben haben, beeinflusst wird, wachsen ständig. (Die detaillierteste Studie, die m.W. bislang in Deutschland diesbezüglich durchgeführt worden ist, ist diejenige von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke über „Institutionelle Diskriminierung“ von Migrantenkindern.) Aber dennoch ist der bildungspolitische Diskurs – bedauerlicherweise mit freundlicher Unterstützung von Personen, die sich selbst gerne als Bildungsforscher verstehen, an wissenschaftlich lauterer Forschung aber eher wenig oder gar nicht interessiert sind – geprägt von der Vorstellung, dass die Bildungsinstitutionen täten, was sie könnten, um die Schüler aus allen Bevölkerungsgruppen zu fördern, und wenn Schüler aus bestimmten Bevölkerungsgruppen – Migrantenkinder, Jungen, Kinder aus der Arbeiterschicht – in der Schule nicht erfolgreich sind, so wäre die Erklärung hierfür bei den Schülern oder ihren Familien selbst zu suchen, denen es am Willen fehle, das zu tun, was für die Förderung der Kinder und eine optimale Vorbereitung auf die Schule und Begleitung in der Schulzeit notwendig sei, oder denen es an den Kenntnissen darüber fehle, wie man Kinder richtig erziehe, fördere, auf ihre Schulkarriere vorbereite und sie begleite.
Um dies zu beschreiben, wird gewöhnlich auf die Konzepte des kulturellen und sozialen Kapitals verwiesen, die der Theorie der Reproduktion sozialer Ungleichheit von Pierre Bourdieu entnommen sind. Beide Kapitalsorten würden den Schulerfolg von Kindern beeinflussen, und in Familien bildungserfolgreicher Kinder sei eben mehr von diesen Kapitalien vorhanden und in den Familien bildungsunerfolgreicher Kinder weniger. Dabei wird davon ausgegangen, dass als „Kapital“ das zählt, was im Bildungssystem Wert hat bzw. das, worauf im Bildungssystem Wert gelegt wird. Alles andere ist entweder kein Kapital oder gerade das „falsche“ Kapital. (Diese Vorstellung wird Bourdieus Theorie zwar nur teilweise gerecht, aber sei‘s drum ….)
Tatsächlich kann in Untersuchungen anhand quantitativer Daten z.B. beobachtet werden, dass der Schulerfolg von Kindern statistisch mit der Bildng der Eltern, ihrem Einkommen und von der elterlichen Kooperation mit der Schule zusammenhängt. Oft werden hieraus die Schlussfolgerungen gezogen, dass der Schulerfolg von Kindern vorrangig von dem familialen Hintergrund bzw. den Eigenschaften der Eltern und ihrem Engagement in der und für die Schule ihrer Kinder abhänge. Gerade für Kinder aus “bildungsfernen” Familien, d.h. von Eltern mit vergleichsweise niedriger Bildung und vergleichsweise niedrigem Einkommen sei die Kooperation zwischen Schule bzw. Lehrkräften und Eltern wichtig, um die Eltern über den Lernstand des Kindes auf dem Laufenden zu halten und um auf sie dazu zu motivieren, mit den Kindern zuhause so umzugehen, wie es die Schule erwartet und Schulerfolg erfordert. Ob diese Schlussfolgerungen allerdings sachlich richtig sind, kann anhand quantitativer Befragungen nicht entschieden werden. Will man feststellen, ob und ggf. warum sich die Kooperation von Schule und Eltern positiv auf den Bildungserfolg von Kindern auswirkt, bietet es sich vielmehr an, qualitativ zu forschen. Die Ergebnisse einer solchen Forschung sind zwar nicht verallgemeinerbar, geben aber Aufschluss über die Existenz bestimmter Mechanismen und damit ggf. darüber, wie und warum das Bildungssystem gemessen an seinem in Schulgesetzen festgehaltenen Auftrag fehlfunktioniert.
Val Gillies, “Pofessor of Social Research” an der London South Bank University, hat das getan und die Ergebnisse ihrer Forschung bereits im Jahr 2005 im Band 39 der Zeitschrift „Sociology“ veröffentlicht. Die Interviews mit 25 Müttern und elf Vätern von Kindern im Alter zwischen acht und zwölf Jahren in 27 Haushalten in England und Schottland, die Gillies ausgewertet hat, wurden im Rahmen eines umfassenden Forschungsprojektes über Erziehungsziele und -praktiken in Familien durchgeführt. Als Hauptergebnis dieser Auswertung hält Gillies fest, dass sich die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten (Gillies schreibt von „middle class“ und „working class“) erheblich auf die Bildungschancen und den Bildungserfolg von Kindern auswirkt, und dass dies nicht auf die Erziehungsziele und -praktiken oder Eigenschaften der Eltern, die der einen oder der anderen Schicht angehören, als solche zurückzuführen ist, sondern auf die Interpretationen, die Repräsentanten der Schule mit Bezug auf die familiale Situation und die Eigenschaften der Kinder aus der Arbeiter- und der Mittelschicht vornehmen.
Dies illustriert Gillies anhand einer Reihe von Familien bzw. anhand von Äußerungen der Eltern in den Interviews, die hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden können. Es sollen hier lediglich zwei Fälle herausgegriffen werden, deren Vergleich das Ergebnis von Gillies vielleicht am besten nachvollziehbar macht. In beiden Fällen geht es um neunjährige Kinder, Zoe und Craig, die Schwierigkeiten mit dem Schreiben und Lesen haben und diesbezüglich deutlich hinter dem Stand ihrer Mitschüler zurückbleiben und außerdem beide dadurch auffallen, dass sie den Unterricht stören. Aufgrund ihrer Lese- und Schreibschwächen und ihres Verhaltens in der Schule sind beide besondere Kinder (Gillies spricht von “special children”), aber diese besonderen Kindern erfahren aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit ganz unterschiedliche Behandlungen, denn ihre Besonderheit wird unterschiedlich interpretiert.
Zoe ist ein Mittelschichtskind. Ihre Mutter ist praktizierende Anwältin. Craig ist ein Arbeiterschichtskind. Er ist der Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Zoes Mutter wird nicht von der Lehrkraft auf die Schwierigkeiten ihrer Tochter angesprochen, sondern wird zum Handeln durch ein Poster angeregt, das auf Schreibschwächen von Kindern hinweist. Sie sucht selbständig einen Spezialisten aus und auf, der Zoe eine leichte bis mittelschwere Dyslexie (eine Sprach-, Lese- und Verständnisschwäche) bescheinigt und den Eltern empfiehlt, die Schule hierum wissen zu lassen, damit sie diesem Umstand mit Bezug auf Zoes Leistungen Rechnung tragen kann. Was das Verhalten Zoes im Unterricht betrifft, so betont ihre Mutter, dass Zoe eine sehr hohe Intelligenz und eine für ihr Alter große Reife habe und es für die Lehrkräfte und die anderen Kinder in der Klasse manchmal schwierig sei, mit diesen besonderen Eigenschaften Zoes umzugehen. Die Diagnose des Spezialisten und ihren Status und ihre Erfahrungen als Rechtsanwältin nutzt Zoes Mutter dazu, in Gesprächen mit den Lehrkräften durchzusetzen, dass Zoe als Kind mit Dyslexie, aber auch mit sehr hoher Intelligenz und großer Reife, angesehen wird, auf dessen spezielle Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen sei.
Craigs Schreib- und Leseschwäche wird im Rahmen einer klinischen Untersuchung festgestellt, die wegen seiner Verhaltensprobleme in der Schule durch die Sozialdienste vermittelt (oder erzwungen, so genau ist das dem Text leider nicht zu entnehmen) wurde. Craigs Mutter ist in keiner Weise in der Position, dafür zu werben, dass Craigs spezielle Bedürfnisse in der Schule zu berücksichtigen seien. Sie agiert von Anfang an unter der Prämisse, dass Craig in der Schule eines unter vielen Kindern ist und er keinen Anspruch auf eine besondere Behandlung habe, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er den Unterricht stört. Ihre Interaktion mit Craigs Schule besteht vor allem in Versuchen, den Verweis ihres Sohnes von der Schule zu verhindern. Die Lösung, die gefunden wird, ist die, dass Craig nur noch am Vormittag in die Schule geht (die englischen Schulen sind Ganztagsschulen) und am Nachmittag zuhause bleibt. Seine Mutter soll ihre Zeit dazu nutzen, zuhause mit ihm Lesen und Schreiben zu üben, um seine diesbezüglichen Entwicklungsrückstände aufzuholen. Sie erhält hierfür keinerlei materielle Hilfe, aber als Fördermaßnahme wird der Mutter auferlegt, an einem Elternkurs teilzunehmen, und Craig muss seinerseits regelmäßig bei einem Psychologen vorstellig werden.
Obwohl also beide Kinder dieselbe Diagnose erhalten und beide den Unterricht stören, bedeutet dies für das Mittelschichtskind Zoe, ein besonderes Kind zu sein, nicht nur oder nicht vorrangig, ein defizitäres Kind zu sein. Die Probleme dieses Kindes werden als Resultat einer von Kind und Eltern unverschuldeten Dyslexie und der hohen Intelligenz und Reife des Kindes angesehen, also auch von positiven Eigenschaften, mit denen Lehrkräfte und andere Kinder Schwierigkeiten hätten – aber nicht umgekehrt. Ein besonderes Kind zu sein, bedeutet dagegen für das Arbeiterkind Craig vor allem, Verhaltensprobleme konstatiert zu bekommen, die im Rahmen sozialer Dienste bearbeitet werden und die im Verbund mit seinen Defiziten im Lesen und Schreiben schließlich zu seinem teilweisen Ausschluss aus der Schule führen. Oder kurz: Das Mittelschichtskind Zoe ist ein schwieriges Kind, das Rücksichtnahme in der Schule verdient, das Arbeiterkind Craig ein Problemkind, das außerhalb der Schule gefördert werden muss, bis es sozusagen schulgerecht aufbereitet ist.
Gillies wertet dies – m.E. zurecht – als eine soziale Ungerechtigkeit, denn das kulturelle, soziale und ökonomische Kapital, über das typischerweise die Mittelschicht verfügt, wird hier zum Maßstab für alle Familien bzw. Kinder gemacht, bzw. die Bildungschancen aller Kinder werden von den spezifischen Kapitalien abhängig gemacht, über die die Mittelschicht, aber nicht die Arbeiterschicht (im selben Ausmaß) verfügt. Fördermaßnahmen betreffen dementsprechend typischerweise Kinder aus der Arbeiterschicht, also Kinder, die oder deren Familien diesem Maßstab nicht gerecht werden. Die Fördermaßnahmen müssen vor diesem Hintergrund als Versuche gewertet werden, Erziehungsziele und –praktiken zu regulieren und zu vereinheitlichen und gleichzeitig mangelnden Bildungserfolg der Arbeiterschichtskinder als selbstverschuldet darzustellen und damit zu legitimieren.
Für Deutschland steht eine direkt vergleichbare Forschung aus, aber vorliegende Forschung über die institutionelle Diskriminierung von Migrantenkindern, von Kindern Alleinerziehender und von Jungen in Deutschland (Diefenbach 2007; Gomolla & Radtke 2009; Kottmann 2006; Lehmann et al. 1997) lässt es zumindest als keineswegs ausgeschlossen erscheinen, dass es auch eine institutionelle Diskriminierung von Kindern aus der Arbeiterschicht gibt. Eigentlich sollte es im Interesse der für Bildungspolitik Verantwortlichen sein, hierüber Bescheid zu wissen und ggf. dagegen vorzugehen, wenn in Leistungsbewertungen Eigenschaften, Kenntnisse und Fähigkeiten von Kindern einfließen, die außerhalb des Unterrichts erworben wurden. Und eigentlich sollte man von Bildungsforschern erwarten dürfen, dass sie die entsprechenden Untersuchungen durchführen.
Spricht man mit Bildungsforschern, so stellt man fest, dass für einige die Mechanismen schulischer Diskriminierung sozusagen “ein alter Hut” sind, so dass sie eine Erforschung derselben für nicht weiter notwendig erachten, und dass es für viele andere derzeit anscheinend bequemer und karrieretechnisch vorteilhaft ist, prinzipiell davon auszugehen, dass diejenigen, die Bildungsnachteile haben, sie insofern selbst verursacht haben als sie sich dem Bildungssystem nicht hinreichend angepasst haben. Beide Positionen sind bedauerlich: Erstere werden ihrem Auftrag nicht gerecht, nicht nur sich selbst, sondern auch die Öffentlichkeit und die für Bildungspolitik Verantwortlichen über Mechanismen schulischer Diskriminierung, die ja zumindest zum Teil in bester Absicht erfolgt, aufzuklären; und bei Letzteren gewinnt Opportunismus die Oberhand über ihren Beruf und ihre Position. Beide nehmen in Kauf, dass es so aussieht, als sei die Mehrheit der Bildungsforscher der Auffassung, Menschen hätten sich den Institutionen anzupassen und nicht die Institutionen den Menschen, die sie nutzen und die sie finanzieren. Zumindest mit einer Wissenschaft, die einen kritischen Anspruch hat, ist dies schwerlich zu vereinbaren.
Literatur
- Gillies, Val (2005), Raising the ‚Meritocracy‘: Parenting and the Individualization of Social Class. Sociology 39, 5: 835-853.
- Diefenbach, Heike (2007), Die schulische Bildung von Jungen und jungen Männern in Deutschland. S. 101-115 in: Hollstein, W. & Matzner, M. (Eds.), Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München; Basel: Ernst Reinhardt Verlag.
- Gomolla, Mechthild, & Radtke, Frank-Olaf (2009), Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.
- Kottmann, Brigitte (2006), Selektion in die Sonderschule. Das Verfahren zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf als Gegenstand empirischer Forschung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.
- Lehmann, Rainer H. & Peek, Rainer unter Mitarbeit von Rüdiger Gänsfuß (1997), Aspekte der Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern der fünften Klassen an Hamburger Schulen. Bericht über die Untersuchung im September 1996. Hamburg: Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung.