Ohne Bestand
von Michael Esders
eine Rezension von Michael Mansion
Auf dem Buchrücken findet sich ein bemerkenswerter Satz, der das Anliegen des Autors anzeigt und dort heißt es:
Die Bestandsblindheit, die immer auch mit Geschichtsblindheit und Kulturvergessenheit einhergeht, ist der erste Schritt zur Bestandsvernichtung.
Bestände sind geworden und werdend, niemals planbar und geplant. Sie sind etwas Errungenes, aber auch Übernommenes. Sie enthalten einen unverfügbaren Kern, etwas, das der Willkür entzogen und nicht machbar ist.
Bestandsblindheit und Bestandszerstörung stehen im Vordergrund jener „Neuen Normalität“, die der Autor kritisch reflektiert. Er sieht sie in Stellung gebracht sowohl gegen ein rechtsstaatliches Selbstverständnis, die Freiheit der Wissenschaft, die der Wirtschaft, den Bestand der Familie und die Grammatik der Sprache.
Esders kritisiert einen bestandsvergessenen Liberalismus, wo dieser ständig über seine Verhältnisse lebe. Diese Bestandsvergessenheit sei ein Antiliberalismus, der sich von den Ideen der Freiheit entfernt habe.
Der Autor kritisiert in diesem Zusammenhang auch Peter Sloterdijk, für den Bestandserhaltung, wie auch Identität, ein Ausdruck von Bequemlichkeit und intellektuellem Spießertum seien. Er verkenne, dass mit dem Lebensweltlichen und dem Institutionellen (…) auch alle Möglichkeiten einer individuellen Selbsttranszendenz ausgelöscht werden.
Die Corona-Krise ist für den Autor ein ganz wesentlicher Ausgangspunkt seiner Betrachtungen und Überlegungen und sie zieht sich exemplarisch durch das gesamte Buch.
Wer Ressourcen des Selbstverständlichen antasten wolle, benötige hierfür sehr gute Gründe, so der Autor. Eine Reflexivität des Denkens verlange keine Generalrevision.
Den identitätspolitischen Vollstreckern seien diese Üblichkeiten aber schon deshalb verdächtig, weil sie in jeder Form gesellschaftlicher Konsonanz eine Überwältigung, einen Gewaltakt gewahren.
Die „Neue Normalität“ trete als Lebensweltverlust, als Form einer Babylonisierung der städtischen Gesellschaft in Erscheinung. Sie sei ein bedeutsamer Sicherheitsverlust und zerstöre das gesellschaftliche Grundvertrauen.
An dieser Stelle kritisiert der Autor Jürgen Habermas mit dessen Idee einer Herauslösung der Mehrheitskultur aus der gewachsenen politischen Kultur als Voraussetzung für ein Miteinander unterschiedlicher Kulturen.
Er (Habermas) lasse außer Acht, dass lebensweltliche Verständnisse weder unbegrenzt diversifizierbar, noch verlustfrei rationalisierbar seien.
Habermas sei blind für eine Kolonialisierung unter antikolonialen Vorzeichen.
Der Autor spricht von einer minderheitenfixierten Identitäts- und Genderpolitik,
deren Agenda einer Dekonstruktion, einer Paranoia gegen jeden Impetus des Bewahrens, des Vorverständnisses und der Bindungskräfte, eine zerstörerische Dimension angenommen hätten.
Arnold Gehlen habe in einer Vorwegnahme der heutigen Diversity-Kultur in der sog. Weltoffenheit kein erstrebenswertes Ziel, sondern den prekären Zustand einer Motivunsicherheit gesehen.
Esders zitiert auch den Althistoriker Egon Flaig mit dessen Hinweis auf die Wichtigkeit gemeinsamer Routinen und Selbstverständlichkeiten. Es müssten ansonsten alle Belange bis ins Kleinste geregelt werden, was ein Rechtssystem in den Kollaps treiben würde.
Die Neudefinition von Familie als einer rein rechtlichen Gemeinschaft ohne biologische Substanz bei gleichzeitiger Desorientierung der Geschlechteridentität führe, so die zitierte Literatur-Wissenschaftlerin Bettina Gruber zu „einer Auflösung jeglicher Binarität im Säurebad genderistischer Theorien“.
Unter dem Panier von Selbstbestimmung und Emanzipation werde das Individuum kulturell und geschichtlich enterbt. Dieses bildungs-und geschichtslose Subjekt sei ein dankbares Objekt soziometrischer Erfassung, Steuerung und Kontrolle.
Eine verschärfte Form der Entüblichung sei auch die Willkommenskultur. Sie sei mit dem Ziel einer Auslöschung des Üblichen inszeniert worden, welche eine gesellschaftliche Spaltung billigend in Kauf genommen habe.
Ein neuer Panoptismus enthülle eine disziplinierende Funktion, begleitet von hypermoralischen Narrativen aus dem Umkreis der Klimarettung.
Esders spannt einen philosophischen Bogen von Horkheimer über Heidegger und Foucault, bis zu Deleuze und Guattari, wo (wie unterstellt in letzter Konsequenz) Tugenden wie Opferbereitschaft, Disziplin und Heroismus als Verkörperung eines Führerprinzips unter einen Faschismusverdacht gestellt werden.
Das, was er als linke Zeitkritik sieht, beurteilt der Autor kritisch und empfiehlt eine Rückbesinnung auf abgeschnittene Traditionen der Vernunft, der Autonomie und des Selbstdenkens.
Zu beobachten sei leider eine Tendenz ins Irrationale, eine Art von Besinnungslosigkeit.
Hier wäre allerdings anzumerken, dass man die Probleme einer modernen industriellen Massengesellschaft kaum ausschließlich auf der Ebene von Rückbesinnung wird lösen können.
Man sollte nicht vergessen, dass die Technikskepsis die Folge einer uferlosen Technikgläubigkeit ist, welche sich natürlich nicht in Technik-Feindlichkeit auflösen kann.
Problematisch ist vielmehr ein Denken, das sich zunehmend den Erkenntnissen der Physik und der Ökonomie mit moralischen Vorhaltungen entzieht.
„Dialektik der Aufklärung“ neu denken
Esders macht den interessanten Vorschlag, „Die Dialektik der Aufklärung“ von einer von ihm unterstellten Bestandsblindheit und –vergessenheit her (…) neu zu denken.
Die abendländische Rationalität habe die Fähigkeit zu einer Generalisierung in besonderer Weise kultiviert und entwickelt. Sie habe eine beispiellose Fülle universeller Gehalte hervorgebracht bis hin zu ästhetischen Errungenschaften wie die Kontrapunktik und die Akkord-Harmonik.
Das alles sei auf einem ganz bestimmten Boden gewachsen.
Der Autor schreibt dann einen ganz außerordentlich wichtigen Schlüsselsatz in dem es heißt:
„Konservatismus und die in der Aufklärung programmatisch gewordene, systematische Bestandskritik, erscheinen nur demjenigen als unvereinbar, der die Eigenartigkeit dieser Rationalität, ihre Wurzeln und ihre Herkunft ausblendet oder in toto verwirft“.
In der Auseinandersetzung mit dem Absolutismus und der spätmittelalterlichen Theologie habe sich die Fähigkeit zur Distanzierung und Selbstreflexion entwickelt. Eine neuzeitliche Vernunft habe Sphären der Berechen- und Lesbarkeit gestiftet.
Die Mathematisierung der Natur und die Infragestellung des theologischen Allmachtspostulats, manifestieren einen Bestandscharakter der Vernunft.
Indem diese Bestände aktuell zur Disposition stehen, sei ein auch vollständiger Rückfall hinter diese Standards der neuzeitlichen Rationalität nicht mehr ausgeschlossen.
Sie werde nicht mehr vom theologischen Absolutismus herausgefordert, sondern von einer angemaßten Weltvernunft, die im Bewusstsein einer moralischen Überlegenheit hausiere und sich rücksichtslos durchsetze. Der Wahn dieser Selbstermächtigung stelle den Absolutismus in der Schatten und trage selbst religiöse Züge.
Jede Bindung erscheine als umfänglicher Identitätszwang und stehe im Verdacht eines präfaschistischen Autoritarismus. Die Festigkeit des/eines Dauernden verfalle dem Verdikt.
Die Tragik der „Kritischen Theorie“ sei, dass mit den Beständen zugleich das preisgegeben werde, was der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Herrschaft des Rentabilitätsprinzips und der Totalisierung der Warenform widerstehen könnte. Die Kritik werde bodenlos.
Das ist eine sehr nachdenkenswerte Anmerkung, die in einen umfänglichen Diskurs münden sollte.
Eine unbegrenzte Zuwanderung müsse allerdings zwangsläufig zu einer ökonomischen Überforderung führen. Eine kulturelle Auflösung der Staatlichkeit trete dann ein, wenn die Einwanderer einen kulturellen Hintergrund haben, der mit den universalistischen Prinzipien unvereinbar sei und ihnen gar feindlich gegenüberstehe, womit der Universalismus sein eigener Totengräber werde.
Schon Karl Popper habe 1945 eine Warnung vor einer utopischen Sozialtechnologie ausgesprochen, welcher er eine „Sozialtechnik der kleinen Schritte“ entgegenstellte.
Einige „Weltarchitekten“ aus Davos machten derweil keinen Hehl daraus, etwa den Schock der Pandemie für längerfristige „Veränderungen“ zu nutzen. Diese bestandsvergessene „Vernunft“ trete bevorzugt unter dem Label der Nachhaltigkeit in Szene.
Orthodoxe Klimatologen und Virologen umströme die Weihe einer Wahrheitspriesterschaft.
Esders greift die Stabilitätskerne von Sprache heraus, die gerne zur Disposition gestellt werden.
Jede Sprache enthalte die Intention auf ein Ganzes. Dies zeige sich auch im Verhältnis der Sprachen zueinander und der Autor zitiert Walter Benjamin, wo dieser von „Der Sehnsucht des Übersetzers nach Sprachergänzung“ spricht.
Ein sprachlicher Geßlerhut fortwährender Konformitäts- und Legalitätsnachweise, liege auf der Linie eines gesellschaftlichen Großtrends.
Das Buch widmet dem Problem von Sprache einen breiten Raum und weist ihre integrative Substanz ebenso nach wie ihre politische Verdinglichung und Deautonomisierung.
So sei etwa im Umfeld des Corona-Regiments soziale Distanz und Selbstisolation zur Chiffre für „neue Nähe“ gedeutet worden.
Freiheit nehme den Charakter eines „Freiganges“ oder eines „offenen Vollzuges“ an.
Eine Mischung aus Alarmismus, Angst und Hypermoral sei für eine Konditionierung wirksam geworden.
Sich der Stabilität der Wirklichkeit zu versichern, sei aber ein Grundbedürfnis des Menschen, eine anthropologische Konstante,- so der Autor.
Der heutige Antiliberalismus sei feinstofflich angelegt, engmaschig, subtiler. Das Erlaube, die Fassade einer Vielstimmigkeit aufrecht zu erhalten. Unter solchen Bedingungen nehme Objektivität den Charakter von Nötigung an, die ohne offene Repression auskomme.
Der Autor findet es interessant, dass ein als Philosoph gescheiterter Zeitgenosse wie George Soros seine Theorie der Reflexivität auf die Finanzmärkte angewandt habe, um an ihnen gesellschaftliche Wirklichkeit zu erproben. Seine finanzielle Unterstützung von NGO´s ist – so Esders – nur als praktische Anwendung dieser Theorie zu verstehen.
Soros verstehe sich als Alchemist der Gesellschaft und der Geschichte.
Dabei seien die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nicht einmal mehr um die Fassade einer Staatsferne bemüht. Der Begriff „Politisch-Medialer Komplex“ sei angesichts dieser Geschlossenheit und Uniformität noch eine Untertreibung.
Das Thema stifte neue Dringlichkeiten, die u.a. dazu beitragen, das fiktionale Geldsystem in einer Art von Kriegswirtschaft über die Zeit zu retten. Mit der Kraft der medialen Bilderwelt sei ein Mann wie Selenskyi vom Entertainer zum Kriegshelden avanciert.
Die Aktualisierung des alten Feindbildes habe es ermöglicht, sich als der „freie Westen“ zu gerieren. Der Wirklichkeitsverlust zeige sich am deutlichsten in der Verselbstständigung des Symbolischen. Man fordert im Kampf gegen Putin ein Tempolimit, schaltet die Heizung aus und friert für den Frieden.
Esders unterstellt der 68er Bewegung, dass sie die Institutionen der Gesellschaft gekapert habe, um sie umzufunktionieren.
Wahrscheinlicher ist aus der Sicht des Rezensenten deren zunehmende theoretische Verkommenheit, die nirgendwo mehr imstande war, ein alternatives Gesellschaftsmodell schlüssig zu erarbeiten und zu referieren.
Die vermeintlich linken Ideale schwimmen auf einer amerikanischen Welle, sind längst nicht mehr marxistisch gebildet und gar nicht imstande, diese Theorie (wie erforderlich) weiterzuentwickeln.
Datenbasierte Regierungsformen seien schon seit einiger Zeit Konzepte der digitalen Polis.
Die technischen Lösungen erreichen Erlösungsqualität.
Ziel sei die „Überbietung“ der Menschheitsgeschichte. Eine digitale Planwirtschaft könnte alle marktliberalen Positionen, einschließlich aller Begriffe von Freiheit und Selbstbestimmung obsolet werden lassen.
Ein engmaschiges Kontroll- Belohnungs und Sanktionsregime würde die Übernahme von Geschichte nicht mehr benötigen (Luhmann).
Michael Esders hat ein aus einer ganzen Reihe von Gründen bemerkenswertes Buch geschrieben, dessen besonderes Verdienst es aus der Sicht des Rezensenten ist, eine Bewegung aufgezeigt zu haben, die im gesellschaftlichen Kontext das Zusammenspiel zerstörerischer Elemente deutlich werden lässt.
Diese richten sich gegen die Substanz eines demokratischen Miteinander, indem sie einen bestandsvergessenen, globalistischen Kosmopolitismus der Beliebigkeiten proklamieren, der in Gestalt einer „Neuen Normalität“ einen Herrschaftsanspruch proklamiert.
Das in der Edition Sonderwege bei Manuscriptum
mit der ISBN Nummer 978-3-948075-48-4 erschienene
Buch hat 6 Kapitel und 282 Seiten