„Frauen würden sich ihrer Obdachlosigkeit schämen und verstecken, sagt Renate Kaufmann. ‚Männer hingegen feiern ihr Schicksal quasi mit einem Doppelliter in der Öffentlichkeit‘, überspitzt die Bezirksvorsteherin von Mariahilf (SP) die Tatsache, dass obdachlose Frauen viel weniger sichtbar sind.“
Das wurde aber auch Zeit: Während oberflächlich argumentierende Menschen die geringere Sichtbarkeit weiblicher Obdachloser eindimensional darauf zurückführen, dass schätzungsweise 90% der Obdachlosen männlich sind, arbeitet die Wiener Sozialdemokratin die männliche Obdachlosigkeit also endlich als Teil patriarchaler Herrschaft heraus, in der Männer auch dann unbekümmert viel zu viel öffentlichen Raum einnehmen, wenn sie billigen Wein trinken und oft nicht einmal vernünftig gewaschen sind. Weit mehr als Männer nämlich nähmen Frauen
„eine gewaltvolle Beziehung oder sexuelle Ausbeutung in Kauf, nur um nicht auf der Straße zu landen und noch mehr ausgeliefert zu sein.“
Empörend: Während Frauen also in Gewaltbeziehungen verbleiben müssen, die Männer niemals erleben, und außer ein paar Frauenhäusern da und dort und außer dem nun endlich eröffneten zweiten Wiener Obdachlosenheim nur für Frauen keinerlei Anlaufstellen haben – währenddessen vergnügen sich die männlichen obdachlosen Luftikusse in aller Öffentlichkeit und streichen unbekümmert die patriarchale Dividende ein.
Warum aber ist das, was Kaufmann bemerkt, nicht vorher schon auch allen anderen aufgefallen? Es ist eben ihre Empörung, die ihr den scharfen Blick für diese Zusammenhänge ermöglicht und die sie davor bewahrt, sich von Scheinargumenten ablenken zu lassen. Ein großes Glück und eine sinnvolle Einrichtung der menschlichen Psyche ist es, dass wir alle an diesem scharfen Blick teilhaben können, dass man also Empörung lernen kann – und dass das sogar ganz einfach ist.
Empörung für Anfänger und Fortgeschrittene
Was aber ist Empörung eigentlich? Alfred Andersch, ein großer Empörter und Empörer der neueren deutschen Literatur, schreibt das in einem Gedicht so:
„ausgeschlossen / sagen viele moral und / vergnügen / schließen sich aus // ich aber schreib’s in / einer / zeile // empört euch der himmel ist blau“
Wunderbar und auch sprachlich elegant macht Andersch also deutlich, was eigentlich moralisch ist: nicht etwa der Versuch, die Perspektiven anderer nachzuvollziehen – Möglichkeiten der gemeinsamen Verständigung zu schaffen – oder gar Rechte zu etablieren, die für alle gelten. Moralisch ist vielmehr die Auflehnung des reinen inneren Menschen gegen die Falschheit der Verhältnisse, die Empörung über deren Schlechtigkeit, die sich eben nicht durch Ablenkungsmanöver wie den Respekt vor unterschiedlichen Perspektiven zur Kumpanei mit dieser Schlechtigkeit verführen lässt.
Der Christdemokrat Armin Laschet, recht geschieht’s ihm, hat das gerade erst gemerkt. Da hat er doch auf Twitter glatt Trittin mit Brüderle verglichen:
„Bei Brüderle gab es wg Nichtigkeiten einen #aufschrei…“
Die passende Antwort gab es postwendend:
„Für den Herrn @ArminLaschet von den #CDU ist also #Sexismus eine Nichtigkeit? #aufschrei war und bleibt wichtig wegen sowas!“
Ein Beispiel dafür, dass eine gekonnte Äußerung von Empörung auch ein ästhetisches Vergnügen ist: Keinen Moment lang lässt sich die Autorin dadurch beirren, dass Laschet doch keineswegs Sexismus, sondern Brüderles Dirndl-Kommentar als Nichtigkeit bezeichnet hat, und das noch dazu in Relation zu Trittins Pädophilie-Unterstützung. Der klare Blick der Empörung liest zwischen den Zeilen und hält sich nicht lang und nutzlos mit den Zeilen selbst auf – er arbeitet heraus, was eigentlich gemeint ist, anstatt sich durch die Oberfläche der Äußerung ablenken zu lassen.
So ist denn auch kaum ein anderes Medium so empörungsgeeignet wie Twitter, und so war es auch kein Zufall, dass eine der effektivsten Gruppenempörungen der neueren Zeit, die Aufschrei-Kampagne, dort ihre Heimstatt hatte. Die Knappheit der 140 Zeichen verhindert jedes Hin- und Herreden, arbeitet klar das Wesentliche heraus und räumt damit eines der größten Hindernisse aus dem Weg, dem die aufrechte Erhebung des reinen inneren Menschen begegnen kann: dem Derailing durch Differenzierung (DdD).
Ob nun ein Spruch über die Brüste einer Frau, ein patriarchal-paternalistisches Türaufhalten, eine Vergewaltigung oder ein Mann, der mehr öffentlichen Raum einnimmt, als ihm von Rechts wegen zusteht: Die Knappheit der Empörung arbeitet die gemeinsame Struktur dieser Phänomene mühelos heraus und hält sich nicht mit irritierenden Unterscheidungen auf.
Zudem reduziert die Twitter-Knappheit eine Äußerung auf ihren wesentlichen Kern, nämlich auf die Frage: Auf welcher Seite stehst Du? Männer, die daherkommen und auch Sexismus erlebt haben wollen, nur weil sie ihre Kinder nicht mehr sehen oder in Gewaltbeziehungen keine Hilfe erhielten, sind schnell enttarnt und können durch geeignete Verfahren (Spam-Block, Verhöhnungen, Löschungen, virtuelle Pranger etc.) unschädlich gemacht werden. Keine Möglichkeit mehr, dass Hinz und Kunz angelaufen kommen, sich auch als Opfer präsentieren und die „Verunsichtbarmachung“ (Lantzsch) der rechtmäßigen Opfer, das berüchtigte Victim Vanishing (VV) betreiben.
Amateur-Empörte allerdings gehen unbefangen fröhlich durch die Welt und enragieren sich erst dann, wenn ihnen etwas begegnet, das ihnen die Schlechtigkeit der Verhältnisse in unerwarteter Weise vor Augen führt resp. vor den Latz knallt. Profis hingegen sind sich dieser Schlechtigkeit beständig bewusst, sie halten ihre Empörungsbereitschaft konstant auf hohem Niveau und scannen ihre Umgebung unermüdlich nach Gelegenheiten, dieses Potenzial abzurufen und in eingeübter, beeindruckender Weise vorzuführen. Die Stellenbeschreibung für die Nachfolge einer Meisterin des Fachs sieht dann so aus:
„Diese Person sollte in der Lage sein, sich binnen weniger Sekunden mit bebender Stimme über jeden beliebigen Vorgang und Sachverhalt im Umkreis von 10.000 Kilometern zu empören.“
Dergestalt aufgeklärt über das innere Wesen der Empörung und gefeit gegen die beiden größten Hindernisse, die sich in den Weg stellen, können wir nun selbst den Schritt von Amateuren zu Profis wagen und uns fragen: Wer sonst, neben christdemokratischen Sexismusverniedlichern und obdachlosen Breitmachmackern, hat unsere Empörung verdient?
Denn wenn auch dieses Mittel vielseitig einsetzbar ist, für linke wie für rechte Politik, für den Ausbau von Windrädern und den der Atomkraft, gegen den Hunger in der Welt und gegen Bayern München und manchmal sogar schon für Männeranliegen – so ist es doch oft eine feministische Politik gewesen, die hier besondere Meisterschaft entwickelte und zeitweilig sogar ein Monopol auf die Vorführung rechtschaffener Empörung in Geschlechterdebatten besaß. Mit ihr lässt sich ein besonders leichter Übergang von den Amateuren zu den Profis finden.
Männer sitzen machtausübend – und andere Aufführungen im Kleinen Haus
Breitmachmacker, übrigens, sind eben die Menschen, die ungehörig viel öffentlichen Raum einnehmen, die z.B. – als hätte die Welt nicht schon genügend Probleme – breitbeinig in öffentlichen Verkehrsmitteln sitzen. Zum Glück gibt es empörte tapfere Frauen, die sie dabei fotografieren und diese Fotos der Öffentlichkeit präsentieren. Sehr schön ist hier zu sehen, wie elegant jedes Derailing durch Differenzierung vermieden wird, wie selbstverständlich also niemand die alberne Frage stellt, ob nicht das ungefragte Fotografieren von Menschen, die unerlaubte Veröffentlichung dieser Fotos und das gezielte Bloßstellen der Betroffenen vor einer möglichst großen Öffentlichkeit nicht ein wenig schlimmer sein könnte, als mit leicht geöffneten Beinen in einem Bus zu sitzen.
Wunderbar auch der geschärfte Blick, der sogleich in der männlichen Sitzhaltung die patriarchale Allmacht erkennt: Männer nehmen Raum ein und Frauen machen sich klein.
Wie groß hingegen die Irritation, wenn ausnahmsweise auch Frauen einmal ein wenig Raum einnehmen. Dass der Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf eine frisch umgebaute Sporthalle nur für Frauen öffnen wollte und dies nun an fünf Tagen der Woche auch tut, führte sogleich zu gewagten Interpretation bis hin zum absurden Vorwurf, die Maßnahme sei „männerfeindlich“ (auch hier vgl. die oben erläuterte VV-Strategie).
„Die Idee zur Frauenturnhalle kommt von Bezirksbürgermeister Stefan Komoß (SPD). Dieser wollte ursprünglich die Halle sogar an sieben Tagen in der Woche in rein weibliche Hand geben. Denn in Marzahn-Hellersdorf ist nur ein Drittel der in Vereinen organisierten Sportler weiblich.“
Elegant und überzeugend die Logik, dass Frauen gerade deshalb eine eigene Sporthalle brauchen, weil viel weniger Frauen als Männer Sport treiben wollen. So ließe sich auch, beispielsweise, die Zahl der Studentinnen in MINT-Fächern mit einfachen Mitteln deutlich erhöhen – gerade weil hier so wenige Frauen studieren wollen, müsste man ihnen nur, über den Daumen gepeilt, 75% der Studienplätze reservieren. Es ist bezeichnend, dass noch niemand auf diese so simple wie naheliegende Lösung gekommen ist.
Doch gibt es in Marzahn-Hellersdorf irgendeinen Anlass zur Empörung? Allerdings: Schon wer sich nur probeweise – einfach um mal zu überprüfen, ob es passt – über Komoß empört, muss feststellen, dass seine Maßnahme ebenso wie das oben dokumentierte Foto scheinbar frauenfreundlich, tatsächlich jedoch von tiefer heterosexistischer Perfidie geprägt ist. Denn was wird hier Männern und Frauen vermittelt?
Männer können offenbar in aller Ruhe zuhause auf dem Sofa liegen, sich womöglich rundum bedienen lassen – und trotzdem das Gefühl haben, ganz in Ordnung zu sein. Frauen hingegen wird bedeutet, dass sie an sich arbeiten müssen, dass sie so, wie sie sind, nicht in Ordnung sind, sondern sich erst angestrengt in Form bringen müssen.
Nur ein empörungsgeschärfter Blick kann also Komoß als den Frauenfeind entlarven, der er ist – ein Blick wie dieser hier:
„die 3 Regalmeter mit ‚Intimwaschlotion – creme, -parfum, -deodorant, …‘ in jedem Drogeriemarkt. Bei Budni in Hamburg gibt es derzeit 11 (!) verschiedene Produkte dieser Art, und zwar ausschliesslich für Frauen gedacht. Entsprechende Produkte zur ‚Intimhygiene‘ für Männer gibt es nicht. Botschaft??!?“
Doch auch die Grünen sind nicht besser als der Sozialdemokrat. Da müssen Menschen in der Beitritterklärung der Grünen Jugend ankreuzen, ob sie „weiblich“ oder „nicht weiblich“ sind, was ungeübte Beobachter mit Männerfeindlichkeit assoziieren. Nicht gesehen wird hier, dass die Grüne Jugend eben gerade Frauen eine definitive Selbstverortung in der heterosexistischen Matrix abverlangt, während Männer sich in einem großen Spektrum an Identitäten einlesen lassen können, solange sie eben nur nicht definitiv weiblich sind. Ein ungeheurer Fehlgriff, der noch nicht genügend Beachtung fand.
Es muss schon klar sein, wer Hauptopfer ist – Aufführungen im Großen Haus
Mit dergestalt geschärftem Blick können wir uns nun auch der ganz großen Politik zuwenden und entdecken natürlich auch hier, und gerade hier, Grund uns zu empören.
„Frauen wählen gerne Studien, die persönliche Vorlieben bedienen, Männer die besser bezahlten technischen Fächer.“
Manche Männer weisen gar darauf hin, dass etwa drei Viertel der Einkommenssteuer von Männern erarbeitet wird und dass das für den Konsum vorhandene Geld zum weit überwiegenden Teil von Frauen ausgegeben wird. Gerade der Skandal des Gender Pay Gap, um den es hier natürlich geht, ist häufig Ziel solcher DdD-Attacken, und es ist gut und so wichtig, dass empörte Bürgerinnen sich hier nicht durch unnötige Argumente verwirren lassen.
Ähnlich in Debatten über die Wehrpflicht. Dass diese in Deutschland ausgesetzt ist, dass Männer ansonsten an allerlei interessanten Orten auf der Welt männliche Hegemonie in ihrer schärfsten Ausprägung ausagieren können, wird von ihnen unbeirrt als vollständige stattliche Verfügbarmachung männlicher Körper erlebt und mit Tod und Trauma und Verkrüppelung assoziiert – ein offenkundiges VV-Manöver zur Verunsichtbarung der Verfügbarmachung weiblicher Körper. Zum Glück hat Hilary Clinton auch hier schon längst das Notwendige klargestellt:
„Frauen waren immer schon die Hauptopfer im Krieg. Frauen verlieren ihre Gatten, ihre Väter, ihre Söhne im Kampf.“
Viel mehr Beispiele ließen sich noch anführen. Doch wie ineffektiv wäre unsere Empörung, wie leicht wäre sie lächerlich zu machen, wenn es nicht Institutionen gäbe, die sie tragen. Den Grünen ist – trotz aller Kritik – zum Beispiel für die Klarstellung zu danken, dass nicht nur die Wehrpflicht ursprünglich das Vorrecht des vollen Bürgers war, sondern dass auch das Sorgerecht, in dem nichteheliche Väter de facto rechtlos sind, tatsächlich frauendiskriminierend ist – weil es die Frau in der Position der Mutter festhält.
Zutiefst zu danken ist auch der EU, in der es Pläne gibt, unserer so wichtigen Empörung den längst überfälligen sicheren Rechtsrahmen zu geben.
„Take concrete action to combat intolerance, in particular with a view to eliminating racism, colour bias, ethnic discrimination, religious intolerance, totalitarian ideologies, xenophobia, antiSemitism, anti-feminism and homophobia.”
Endlich also wird erkannt, dass Rassismus, Antifeminismus und Antisemitismus drei Seiten derselben Medaille sind. Kein Derailing durch Differenzierung mehr, das absurde Unterschiede konstruiert zwischen der rassistischen oder judenfeindlichen Feindschaft gegen Menschen und der Kritik an bestimmten politischen Positionen. Keine Erwartung mehr, diese Positionen müssten aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, Interessen müssten miteinander abgeglichen werden (Victim Vanishing) – sondern die Reduzierung der Politik auf das im humanen Sinne Wesentliche: Was uns empört, ist falsch und muss weg.
Doch diese so wichtigen Maßnahmen bleiben wertlos, wenn sie nicht mit Leben gefüllt werden. Es liegt an allen, die Empörungsbereitschaft hoch zu halten, ihre Ausübung kontinuierlich einzuüben und wieder und wieder in einer beeindruckenden Performance die Schlechtigkeit der Verhältnisse auszustellen. Denn das Theater ist, wie schon die Klassiker wussten, eine moralische Anstalt.
Der Artikel erschien zuerst auf man tau.