Oder: Wie die Linken auf ihre Ideale verzichten
Früher haben große Teile der Linken Karriere abgelehnt. Sie wurde als Ausdruck der Entfremdung angesehen und galt als Inbegriff von Geldgier, hierarchischen Strukturen, Konkurrenz und Ellenbogenmentalität, kurz: als Inbegriff des falschen Lebens.
Seit geraumer Zeit beobachten wir eine Rehabilitierung des Karrierismus, und zwar insbesondere in der sich als links begreifenden Frauenbewegung. Doch welche Gründe gibt es für diesen Sinneswandel?
Karriere bezeichnet den beruflichen Aufstieg eines Menschen, wobei dieser Aufstieg nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in anderen Bereichen der Gesellschaft wie Politik oder Wissenschaft stattfinden kann. Unter Karrierismus versteht man eine Haltung, bei der ein Mensch die eigene Karriere in den Mittelpunkt seines Lebens stellt. Karriere machen stellt für ihn den höchsten Wert dar.
Die Ablehnung von Karriere ist für die Alternativbewegung, die auch als linksalternative Bewegung bezeichnet werden kann, charakteristisch. Diese ablehnende Haltung hat ihre Wurzeln in der von Karl Marx und den Denkern der Kritischen Theorie vorgelegten Kritik am Kapitalismus und an der bürgerlichen Gesellschaft. Deshalb werde ich im ersten Schritt den von Karl Marx im Rahmen seiner Kapitalismuskritik behandelten Begriff der Entfremdung und die von Erich Fromm, einem Vertreter der Kritischen Theorie, vorgelegte Analyse der Marketing–Orientierung erläutern. Erst auf der Grundlage dieser Erläuterungen kann im zweiten Schritt die Zurückweisung des Karrierismus durch die linksalternative Bewegung beleuchtet werden. Da die sog „zweite Frauenbewegung“ einen Teil der linksalternativen Bewegung bildet, wohnt auch ihr die Zurückweisung des Karrierismus inne. Seit den 80er und 90er Jahren tritt in der linksalternativen Bewegung eine immer größere Akzeptanz und sogar eine Propagierung des Karrierismus ein, vor allen Dingen dann, wenn Karriere machen Frauen betrifft. Diesen Sinneswandel werde ich anhand der Berichterstattung der linksalternativen Tageszeitung (taz) zu den Themen „Frauen und Karriere“ und „Frauenquote“ aufzeigen. Schließlich werde ich auf die Gründe für die Rehabilitierung des Karrierismus in der linksalternativen Bewegung eingehen.
Entfremdung und Marketing-Orientierung
Nach Karl Marx ist Entfremdung charakteristisch für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Der Arbeiter stellt Produkte her, die für ihn zu fremden Objekten werden, weil sie nicht von ihm, sondern von dem ihn ausbeutenden Eigentümer der Produktionsmittel (dem Kapitalisten) angeeignet werden. Doch nicht nur die Produkte seiner Arbeit werden zu ihm fremden Objekten. Auch die Arbeit selbst, also der Akt der Arbeit, wird für den Arbeiter zu einer fremden Tätigkeit: Er entäußert seine Fähigkeiten und Kräfte, „überträgt“ sie auf die ihm fremden Objekte seiner Arbeit. In den Worten von Marx: Entfremdung ist der Zustand, in dem
„die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt dass er sie beherrscht.“(1)
Marx zufolge kann die Entfremdung nur dann aufgehoben werden, wenn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse beseitigt werden. Dies kann nur eine proletarische Revolution vollbringen.
Während sich Marx die Entfremdung des Menschen haupsächlich in der Warenproduktion äußert, sehen die Vertreter der Kritischen Theorie die gesamte Gesellschaft als einen Entfremdungszusammenhang (manche Vertreter der Kritischen Theorie wie Georg Lukács sprechen statt von „Entfremdung“ von „Verdinglichung“). Alle „äußeren Mächte“, d.h. alle Bereiche der Gesellschaft, empfindet der Mensch als etwas ihm Fremdes, als etwas, das ihn ohne seine Zustimmung bestimmt, beeinflußt und manipuliert. Dabei handelt es sich um die Entfremdung des Menschen von anderen Menschen, von staatlichen Institutionen bzw. vom Staat, von Politik und Massenmedien. Der Mensch ist jedoch nicht nur von äußeren, sondern auch von seinen „inneren Mächten“ entfremdet, d.h. von seinem Denken, Wissen und von seinen eigenen Gefühlen.
Für Erich Fromm, der zu den herausragenden Vertretern der Kritischen Theorie gehört, ist Entfremdung in der westlichen Gesellschaft „fast total“:
„Sie kennzeichnet die Beziehung des Menschen zu seiner Arbeit, zu den Dingen, die er konsumiert, zum Staat, zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst.“(2)
Die innere Entfremdung wird von Fromm als eine Folge der äußeren betrachtet. Entfremdete gesellschaftliche Strukturen werden vom Menschen im Laufe seines Lebens verinnerlicht und wirken in ihm – haupsächlich in seinem Unbewussten – weiter. Auch innere Zustände werden zu fremden Phänomenen.
Beispielsweise werden Denken und Wissen zu fremden Dingen, zu Waren, die der Mensch auf dem Wissensmarkt verkaufen kann; er denkt nicht um des Denkens willen, er weiß nicht um des Wissens willen, vielmehr benutzt er Denken und Wissen als Instrumente für irgendwelche Zwecke. Das Verhängnisvolle ist dabei, dass ihm der Warencharakter des Denkens und Wissens gar nicht bewusst ist.
Entfremdung kommt gemäß Fromm am deutlichsten in der sog. Marketing–Orientierung zum Ausdruck. Bei dieser Orientierung ist der Mensch ein Ding, eine Ware, die sich auf dem Markt, genauer: auf dem Personalmarkt, erfolgreich, also gewinnbringend verkaufen möchte.
Zwar spricht Fromm in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich von Karriere, doch es liegt auf der Hand, dass die Marketing-Orientierung aufs engste mit der Karriere-Orientierung verbunden, wenn nicht sogar mit ihr identisch ist.
Ein wichtiges Element der Marketing-Orientierung ist zunächst die Abhängigkeit des Menschen von äußeren Umständen. Wenn jemand eine Karriere macht, muss er sich vollständig an die Bedingungen des Marktes anpassen, er muss den Erfordernissen des Marktes genügen. Das bedeutet, dass er nicht er selbst sein kann, sondern so sein muss, wie andere es von ihm verlangen. Sein Motto lautet:
„Ich bin so, wie du mich haben möchtest.“(3)
Oder:
„Ich bin so, wie ihr mich wünscht.“(4)
Die Fähigkeiten und Kräfte des Menschen sind demnach nichts Eigenes, sondern Waren, die von anderen eingeschätzt und gebraucht werden können.
Das zentrale Element der Marketing- und der Karriere-Orintierung ist das Streben nach Erfolg. Wie wir oben gesehen haben, betrachtet sich ein Mensch, der der Marketing-Orientierung folgt, als Ware, die er auf dem Markt verkaufen kann. Es geht ihm nicht um Selbstverwirklichung, Selbsterfüllung und Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit. Er hat dann Erfolg, wenn er sich gewinnbringend verkauft.
Hat er in diesem Sinne Erfolg, dann empfindet er sich als wertvoll, wenn nicht, als wertlos. Mit anderen Worten: Sein Selbstwertgefühl hängt von seinem Erfolg ab, davon,
„ob er sich gewinnbringend verkaufen kann, ob er mehr aus sich zu machen weiß als er zu Anfang seiner Laufbahn (seiner Karriere, A.U.) war, kurz ob er ´sein Erfolg ist`.“(5)
Der Karrierist ist umso erfolgreicher, umso besser er sich gewinnbringend verkaufen kann, wobei gewinnbringend in erster Linie geldbringend bedeutet. Die Marketing- und die Karriere-Orientierung sind deshalb aufs engste mit Geldgier und auch Machtgier verbunden. Die Jagd nach Geld, nach der Vermehrung des Besitzes ist für den Karrieristen von entscheidender Bedeutung, denn je mehr Geld und Besitz er ansammelt, desto mehr Anerkennung spenden ihm die anderen und desto stärker wird sein Selbstwertgefühl. Geld wird für ihn deshalb zu einem Götzen, den er bedenkenlos anbetet.
Fromm macht noch auf ein anderes Phänomen aufmerksam: Um Erfolg zu haben, muss sich der Mensch, der der Marketing-Orientierung verfallen ist, vorteilhaft präsentieren. Dabei verstellt er sich selbst; er ist nicht er selbst, er agiert nicht authentisch, sondern spielt den anderen etwas vor. Grundlegende menschliche Eigenschaften wie Höflichkeit, Freundlichkeit und Güte werden zu Instrumenten, mit denen er andere Menschen täuscht und die ihm dazu verhelfen, sich besser zu verkaufen und Karriere zu machen.(6)
Betrachtet sich der Mensch selbst als Ware, so sieht er auch die anderen als Ware, die einen Markt-Wert hat. Er betrachtet die anderen nicht in ihrem Eigenwert, nicht als Selbstzweck, sondern benutzt sie für seie Zwecke. Er schreckt daher nicht davor, sie ohne Bedenken zu manipulieren. Es versteht sich von selbst, dass die Marketing-Orientierung dadurch die Ellenbogenmentalität, also das skrupellose Sich-Durchsetzen, das Über-Leichen-Gehen fördert.
Da der Karrierist andere Menschen für seine Zwecke benutzt, nur seine Interessen und seinen Erfolg im Blick hat, kann seine Haltung als eine zutiefst egoistische bezeichnet werden.
Bemerkenswert ist, dass die Marketing-Orientierung trotz allen Anscheins Individualität zerstört. Da der Mensch auf seinen Warencharakter und seinen Markt-Wert reduziert wird, ist das Besondere und Einmalige, eben die Individualität, ein „unnötiger Ballast“.(7) Wenn individuelle Eigenschaften zu den Anforderungen des Marktes nicht passen, dann müssen sie abgelegt werden,
„denn die Marketing-Orientierung muss frei sein, frei von jeglicher Individualität.“(8)
Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden: Der Mensch, der der Marketing- und Karriere-Orientierung verfallen ist, verliert seine Unabhängigkeit, Selbstbestimmung (Autonomie) und Freiheit. Er entfernt sich von allem, was wichtig ist, von seinem Selbst, von kritischem Denken und authentischem Fühlen sowie von echten interpersonalen Beziehungen. Kurz: Karriere ist der Inbegriff des falschen Lebens.
Doch welche Alternative zur Marketing- und Karriere-Orientierung bietet uns Erich Fromm an? Fromm stellt in seinen Werken Praktiken vor, mit deren Hilfe der Mensch ein nicht-entfremdetes Verhältnis zu sich selbst und zu anderen gewinnen könnte. Eine besondere Rolle spielt dabei die Psychoanalyse. Sie ist in seinen Augen die beste Methode, die Befreiung des Menschen von der Entfremdung zu fördern. Mit ihrer Hilfe soll der Mensch die verdrängten frühkindlichen Konflikte aufarbeiten und somit Reife, Unabhängigkeit, Autonomie und Freiheit erlangen.
Die Aufgabe der Psychoanalyse geht jedoch über das Individualtherapeutische hinaus; sie soll den Menschen dazu befähigen, seine gesellschaftliche Bedingtheit zu sehen und gesellschaftliche Verhältnisse zu seinen Gunsten zu verändern. Analyse des Einzelnen und Analyse der Gesellschaft lassen sich nach Fromm voneinander nicht trennen. Die Psychoanalyse avanciert somit zu einer kritischen Gesellschaftstheorie.
Als Alternative zur Marketing- und Karriere-Orientierung nennet Fromm auch die produktive Orientierung. Unter Produktivität versteht er die Verwirklichung der dem Menschen innewohnenden konstruktiven Potentiale und die volle Entfaltung seiner Kräfte. Kennzeichnend für die produktive Orientierung des Menschen ist die
„Fähigkeit, die Welt zu erfassen – im Bereich des Gefühls durch seine Liebe, im Bereich des Denkens durch seine kritische und phantasiereiche Vernunft und und im Bereich des Handelns durch seine schöpferische Arbeit und durch Kunst.“(9)
Produktives Tätigsein ist in diesem Sinne ein nicht-entfremdetes Tätigsein, ein produktiver Mensch ist ein nicht-entfremdeter Mensch.
Die Ablehnung des Karrierismus in der linksalternativen Bewegung
Alternative Ideen und Lebensformen im Sinne einer Alternative zu kapitalistischen Produktionsverhältnissen und bürgerlichen Lebensformen gibt es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Zu den bekanntesten Vorläufern der Alternativbewegung gehören die Bohème und die Jugendbewegung.
Beide sind antibürgerlich, d.h. ihre Mitglieder lehnen zum großen Teil traditionelle Formen des Zusammenlebens wie Familie, ferner beruflichen Aufstieg (der Begriff „Karriere“ war damals noch nicht üblich), Geld und Prestige ab. Geld verdienen war für sie ein „Greuel“.(10)
Vertreter der beiden Bewegungen praktizierten alternative Formen des Zusammenlebens und der Arbeit. Die Mitglieder der Bohème versammelten sich in intellektuellen Zirkeln und Künstlerkolonien. Die Mitglieder der Jugendbewegung versuchten, ein nicht-entfremdetes Verhältnis zur Arbeit und zur Natur herzustellen. Sie realisierten ihre Vorstellungen in den zahlreichen Landkommunen.
Die Nationalsozialisten zerschlugen beide Bewegungen. Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Wiederbelebung des alternativen Gedankenguts. Eine wichtige Rolle spielte dabei die antiautoritäre Studentenbewegung. Sie wird auch als Die 68er bezeichnet. Die Repräsentanten dieser Bewegung knüpften einerseits an die Kapitalismuskritik von Karl Marx und von Vertretern der Kritischen Theorie an, andererseits an die Lebensvorstellungen der amerikanischen Beatniks und Hippies. Die Letzteren lehnten alles, was mit Karriere zu tun hat, z.B. Strebsamkeit, Disziplin und Durchsetzungsvermögen, entschieden ab.
Erst Mitte der 70er Jahre taucht der Name „Alternativbewegung“ als Oberbegriff für alle organisierten Formen der Suche nach einem nicht-entfremdeten Leben und Arbeiten auf.
Die Alternativbewegung ist in sich sehr heterogen. Sie umfasst folgende Strömungen und Teilbewegungen: Ökologiebewegung, Friedensbewegung, die undogmatische „Neue Linke“, Spontigruppen und Frauenbewegung. Auch Subkulturen oder ihre Teile wie Dritte-Welt-Initiativen, Landkommunenbewegung und Homosexuellenbewegung können zur Alternativbewegung gerechnet werden.(11)
Parteipolitisch wird die Alternativbewegung von Den Grünen repräsentiert. Obwohl Mitglieder und Wähler der Grünen über die Alternativbewegung hinausgehen, ist der Einfluss der Alternativbewegung in dieser Partei programmatisch und personell sehr stark. Alle genannten Strömungen und Teilbewegungen sind bei den Grünen vertreten.
Die wichtigsten Merkmale der Alternativbewegung sind die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft und die bereits erwähnte Suche nach einem authentischen, nicht-entfremdeten Leben und Arbeiten. Da die antikapitalistische Note bei den Alternativen stark ist, werde ich im Fortgang von linksalternativer Bewegung sprechen.
Ex negativo lassen sich noch genauer folgende Merkmale dieser Bewegung nennen: Ablehnung von Abhängigkeit, Fremdbestimmung, Zwang, Hierarchie, Autorität, starren Strukturen, traditionellen Rollenbildern, Geld, Reichtum, Konsum, Leistungsprinzip, Konkurrenz, Erfolg, Karriere, Status und Macht.
Positiv lassen sich folgende Merkmale festhalten: Unabhängigkeit, Selbstbestimmung (Autonomie), Freiheit, Gleichheit, Mitbestimmung, Lockerheit, Authentizität, Spontaneität, Flexibilität, Kreativität, Selbstgenügsamkeit, Selbsterfüllung/Zufriedenheit, Selbstverwirklichung und Solidarität.
Stellen wir zwecks besserer Veranschaulichung der linksalternativen Weltsicht die positiven und negativen Merkmale gegenüber: Unabhängigkeit statt Abhängigkeit, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung, Freiheit statt Zwang, Gleichheit und Mitbestimmung statt Autorität und Hierarchie, Lockerheit, Spontaneität, Flexibilität und Kreativität statt Starrheit, experimentieren mit neuen Rollenbildern statt befolgen von traditionellen Rollenbildern, Selbstgenügsamkeit statt Geld, Reichtum und Konsum, Solidarität statt Konkurrenz, Selbsterfüllung/Zufriedenheit und Selbstverwirklichung statt Leistungsprinzip, Karriere, Erfolg, Status und Macht.
Um die Ablehnung von Karriere durch die Linksalternativen zu verstehen, betrachten wir genauer ihr Verhältnis zur Arbeit. Das Motto der Linksalternativen lautet:
„Weniger arbeiten, anders arbeiten.“(12)
Man arbeitet nicht, um viel Geld zu verdienen, Karriere zu machen und Status sowie Macht zu erlangen. Vielmehr arbeitet man, um sich selbst zu verwirklichen, um ein nicht-entfremdetes, selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu haben. Dieser Lebensauffassung folgend werden im Rahmen der linksalternativen Bewegung neue Formen der Arbeit und der Arbeitsorganisation kreiert. Zu erwähnen sind hier insbesondere Alternativprojekte in den Städten und auf dem Land (Kommunen).
Charakteristisch für die Organisationsstruktur der Alternativprojekte ist die Ablehnung von Hierarchien. Hierarchien schaffen Ungleichheit, Abhängigkeit und Konkurrenz. In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass Karriere machen immer mit Hierarchisierung einhergeht. Wer Karriere macht, steigt auf der „Karriereleiter“ auf, die eine Hierarchie darstellt. In Alternativprojekten zeichnet sich die Arbeitsstruktur nicht durch Hierarchie, sondern durch Gleichheit, Mitbestimmung, Dezentralität und Selbstverwaltung aus. Entscheidungen werden nicht „von oben“, also aufgrund von Hierarchie, sondern durch Diskussionen und Mehrheitsentscheidungen gefällt.(13)
An die Stelle von Konkurrenz treten Mitmenschlichkeit, Solidarität und Humanverträglichkeit. Der Soziologe Walter Hollstein, einer der ersten, die die Alternativbewegung(en) wissenschaftlich untersuchten, betont, dass die „Humanisierung der Arbeitswelt“ ein Thema ist, „dessen Aktualität und Bedeutung die Alternativbewegung wesentlich gefördert hat.“(14)
Die linksalternative Bewegung hat darüber hinaus einen neuen Typus des Selbständigen und des Unternehmers kreiert. Zunächst muss hervorgehoben werden, dass sich Linksalternative vornehmlich für psychosoziale und kreative Berufe entscheiden, Berufe, die Selbständigkeit und Selbstverwirklichung fördern, wie z.B. Psychoanalytiker und Therapeuten anderer psychologischer Richtungen, Sozialpädagogen, Lehrer, Lebensberater, Kulturschaffende (Künstler, Regisseure, Musiker usw.), Designer, Texter und Promoter.(15)
Dem „neuen Selbständigen“ und dem alternativen Unternehmer geht es in erster Linie nicht um Geld, Karriere, Status und Macht, sondern um die Befreiung von abhängiger, entfremdeter Arbeit und um Selbstverwirklichung. Sie möchten sich nicht auf eine bestimmte Tätigkeit und auf bestimmte Berufsrollen festlegen, denn dieses Festlegen führt zur Monotonie, Verstumpfung und letztlich zur Entfremdung. Sie lehnen ferner Vollzeitarbeit, weitreichende Planungen und festgelegte Berufskarrieren ab.
Doch geht es den Linksalternativen nicht nur darum, ein anderes Verhältnis zur Arbeit zu gewinnen, sondern auch, die Arbeitszeit zu reduzieren. Das ist notwendig, um mehr Freizeit zu haben und sich in der Freizeit der eigentlichen Selbstverwirklichung zu widmen – auch dann, wenn die Arbeit einen nicht oder weniger entfremdet. Anders formuliert:
„Teils wollen sie sich aber auch einfach von der Dominanz der Berufsarbeit in ihrem Leben befreien, mehr ´Freizeit` für sich und ihre Interessen haben. Sie nehmen dafür Einschränkungen ihres bisherigen Konsumstandards, auch ihre Absicherung in Kauf.“(16)
Eine besondere Rolle spielt dabei die Teilzeitarbeit. Sie ermöglicht mehr Freizeit, also mehr Zeit für die eigene Selbstverwirklichung, für das Eigentliche des menschlichen Lebens, für kulturelle Hervorbringungen in Philosophie, Musik, Kunst und Literatur.
Flexible Arbeitszeiten ermöglichen wiederum, die Zeit den eigenen Bedürfnissen entsprechend einzuteilen. Der Mensch soll kein Sklave der Zeit sein, sondern über seine Zeit möglichst frei verfügen können.
Auch die Ablehnung der Vollzeitarbeit und die Propagierung von Teilzeitarbeit und von flexiblen Arbeitszeiten widersprechen der Karriere-Orientierung, denn es ist in der Regel nicht möglich, Karriere in Teilzeit zu machen.
Die Frauenbewegung wurde oben als ein Teil der linksalternativen Bewegung bezeichnet. Der Soziologe Karl-Werner Brand unterscheidet innerhalb der „neuen Frauenbewegung“ (die neue Frauenbewegung wird auch als die „zweite“ bezeichnet und dadurch von der „ersten Frauenbewegung“, von den sog. Suffragetten abgegrenzt) zwischen dem „linken Feminismus“ und dem „feministischen Feminismus“, der auch als „radikaler Feminismus“ bezeichnet wird.(17)
Der erste legt den Schwerpunkt auf die Kapitalismuskritik. Er sieht den Gegner nicht in dem Mann, sondern im kapitalistischen System. Linke Feministinnen sprechen sich für eine Zusammenarbeit mit Männern aus und möchten mit ihnen das kapitalistische System zugunsten eines sozialistischen überwinden.
Der radikale Feminismus ist in erster Linie antipatriarchalisch. Er kämpft gegen das Patriarchat (die angebliche Herrschaft der Männer), das ihm zufolge historisch älter und tiefer liegender ist als der Kapitalismus.
Zwischen den beiden Formen des Feminismus lässt sich keine trennscharfe Linie ziehen, denn für den radikalen Feminismus sind Strukturen des Kapitalismus und des bürgerlichen Lebens ein Ausdruck des Patriarchats.
Die neue Frauenbewegung weist die Merkmale auf, die wir bei der allgemeinen Charakteristik der linksalternativen Bewegung genannt haben. Es sind vor allem die Ablehnung von Hierarchien, traditionellen Rollenbildern sowohl in der Partnerschaft als auch in der Arbeitswelt, ferner die Ablehnung von Leistungsprinzip, Vollzeitarbeit, Erfolgsstreben, Konkurrenzverhalten, Ellenbogenmentalität und Karriere. Diese Merkmale bzw. Eigenschaften werden als typisch männlich betrachtet. Als Alternative zu dem kalten, zweckrationalen, entfremdeten und insofern „männlichen“ Habitus des Kapitalismus werden „weibliche“ Eigenschaften propagiert, wie z.B. Selbstbestimmung, Emotionalität, Versöhnung von Kopf und Bauch, Intuition, Unmittelbarkeit und Spontaneität.
Linksalternative Frauen neigen mehr zum Ethos der Selbstverwirklichung als gleichgesinnte Männer. Das kann man erstens daran beobachten, dass sie sich häufiger für Teilzeitarbeit entscheiden. Sie möchten weniger arbeiten und somit mehr Zeit für sich selbst, für ihre Selbstverwirklichung haben. Zweitens wurden der Psycho-Boom und der Esoterik-Boom weitgehend von linksalternativen Frauen getragen. Sie interessieren sich offenbar mehr als linksalternative Männer für Praktiken der Selbstbeschäftigung und Selbstfindung, wie z.B. Psychotherapie, Selbsterfahrungsgruppe, kreatives Schreiben, musizieren, Theater spielen, malen usw. Auch die florierende Selbstfindungsliteratur ist eine Frauendomäne. Von vielen linksalternativen Frauen wird das Universitätsstudium, vorwiegend das Studium der Sozialwissenschaften (z.B. der Gender Studies), dazu benutzt, sich mit sich selbst zu beschäftigen und die eigenen Identitätsprobleme zu lösen. Ohnehin scheint die lebenslange Beschäftigung mit sich selbst auf feministisch orientierte Frauen eine unwiderstehliche Faszination auszuüben.
Summa summarum kann Folgendes behauptet werden: Der Karrierismus ist ein zentrales Merkmal der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft. Er wurde in der gesamten linksalternativen Bewegung abgelehnt. Da die Struktur der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft in den Augen von linksalternativen Feministinnen ein Ausdruck der Männerherrschaft, des Patriarchats ist, ist es nur folgerichtig, dass in der neuen Frauenbewegung der Karrierismus noch stärker abgelehnt werden sollte als in den übrigen Teilen der linksalternativen Bewegung. In anderen Worten: Der Karrierismus sollte in der neuen Frauenbewegung besonders stark zurückgewiesen werden, denn er ist ein Inbegriff für die entfremdeten Strukturen des Kapitalismus und die unterdrückenden Mechanismen des Patriarchats.
Die Rehabilitierung des Karrierismus in der linksalternativen Frauenbewegung
In den 60er und 70er Jahren erlebte die linksalternative Bewegung ihre Blütezeit. Ihre Ideen wurden nicht nur theoretisch verbreitet, sondern auch in die Praxis umgesetzt. Es entstand eine Gegengesellschaft, in der linksalternative Lebensformen gelebt werden konnten.(18)
Doch seit den 80er und 90er Jahren ist in der linksalternativen Bewegung eine immer größere Akzeptanz derjenigen Regeln des kapitalistischen Systems zu beobachten, die von ihr vorher strikt abgelehnt wurden. Es handelt sich vorwiegend um Selbstdarstellung, Vermarktung der eigenen Person, Konsumhaltung, Erfolgsstreben und nicht zuletzt Karrierismus.
Auch die linksalternative Frauenbewegung akzeptiert zunehmend die einst verfemten Regeln des kapitalistischen Systems, insbesondere den Karrierismus. Die Karriere-Orientierung wird von repräsentativen Vertretern dieser Bewegung seit geraumer Zeit jedoch nicht nur akzeptiert, sondern ganz vehement propagiert. Das soll im Folgenden anhand der Berichte zu Themen „Frauen und Karriere“ und „Frauenquote“ in der Tageszeitung (taz) demonstriert werden.
Die seit 1979 bestehende, täglich erscheinende und überregionale taz gilt als linksalternatives Vorzeigeprojekt. Sie kann als das Zentralorgan der Linksalternativen, als die Plattform des linksalternativen Spektrums betrachtet werden. Die taz hat den Anspruch, die oben genannten antikapitalistischen und antibürgerlichen Werte zu verbreiten, linksalternative Projekte vorzustellen und über neue Trends in der linksalternativen Szene zu berichten.
Die neue Frauenbewegung ist in der taz sehr stark vertreten. Die ehemaligen Chefredakteurinnen Bascha Mika und Ines Pohl sind Feministinnen und Frauenrechtlerinnen. Es besteht eine Frauenquote für die Redaktion und andere Positionen (z.B. Volontariate). Über den Feminismus und die Frauenpolitik wird in der taz unverhältnismäßig viel geschrieben.
Die langjährige Chefredakteurin der taz Bascha Mika unterscheidet immerhin noch zwischen „innerer“ und „äußerer Karriere“.(19) Die äußere bezeichnet den beruflichen Aufstieg, der sich an Status und Macht orientiert. Bei der inneren Karriere geht es um den Sinn dessen, was man tut. Die äußere Karriere bezeichnet demnach das, was oben unter dem Stichwort „Karrierismus“, die innere das, was unter dem Stichwort „Selbstverwirklichung“ betrachtet wurde.
Bascha Mika übernimmt die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Karriere jedoch nicht aus der linksalternativen Tradition, sondern aus der „Beraterbranche“. Bezeichnenderweise verliert sie in ihrem Buch „Die Feigheit der Frauen“ kein kritisches Wort über die äußere Karriere. Innere und äußere Karriere sollen nebeneinander bestehen und sich gegenseitig ergänzen. Frauen sollen sich selbst bei der inneren und äußeren Karriere nicht im Wege stehen.
Während bei Bascha Mika im Hinblick auf Arbeit und beruflichen Aufstieg noch ein Bezug zur Selbstverwirklichung und somit der Anspruch auf eine nicht-entfremdete Lebensweise zu finden sind, fehlen sie in den Artikeln der taz-Journalistin Simone Schmollack. Bei ihr finden wir stattdessen eine völlig unreflektierte und unkritische Verbreitung des Karrierismus vor, und zwar insofern Karriere machen Frauen betrifft. Sie verzichtet in diesem Zusammenhang auf linke, antikapitalistische und antibürgerliche Ideale. Die Suche nach einer nicht-entfremdeten Arbeit, nach einer Arbeit ohne Erfolgsstreben, Geldgier und Konkurrenzverhalten gehört offensichtlich nicht zu ihrer Lebensorientierung und zum Schwerpunkt ihrer journalistischen Tätigkeit. Arbeiten, und zwar unter den Bedingungen des kapitalistischen Systems, und Karriere machen scheinen für sie das Allheilmittel gegen die Probleme von Frauen (und die Probleme der Wirtschaft) zu sein. Sie ist besonders daran interessiert, Mütter auf den Karriereweg zu holen. Sie beklagt, dass der „große Karrieresprung“ dann ausbleibt, wenn Mütter Vollzeit- gegen Teilzeitarbeit tauschen.(20)
Wie andere taz-Journalistinnen propagiert Simone Schmollack besonders vehement eine Frauenquote für Aufsichtsräte und andere „Führungspositionen“.(21) Bei der Anfang 2015 beschlossenen Frauenquote für Aufsichtsräte von Großunternehmen handelt es sich um eine Quote, von der ca. 300 Frauen aus der Oberschicht profitieren würden. Es handelt sich daher um eine Luxusquote für bereits privilegierte Frauen. Die Aufsichtsrats- und Vorstandssitze sowie andere Führungspositionen bilden die Spitze auf der Karriereleiter. Sie sind aber auch Schaltstellen der Macht. Setzt man sich dafür ein, Personen oder Personengruppen auf die genannten Positionen zu hieven, so verbreitet man nicht nur den Karrierismus, der bereits Ausdruck des kapitalistischen Arbeitsethos ist, sondern unterstützt und stabilisiert darüber hinaus das herrschende wirtschaftliche und politische System.
Die Propagierung des Karrierismus und der Frauenquote steht im Zentrum der journalistischen Arbeit von Heide Oestreich. Auch diese taz-Journalistin scheint linke Ideale völlig vergessen zu haben. Sie schwärmt von „Führungspositionen“, Toppositionen der Wirtschaft“, „Führungsfrauen“ und verweist auf einen Frauen-Karriere-Index, in dem Daten über vorhandene und geplante Chefinnen von DAX-Unternehmen gesammelt werden.(22)
Fast schon manisch berichtet sie über den Frauenanteil in Topunternehmen. Gewürdigt werden von ihr Firmen, die einen höheren Frauenanteil im Topmanagement aufweisen bzw. den Frauenanteil wesentlich erhöhen möchten, wie z.B. Henkel, Bayer, BMW und Deutsche Bank. Dass es sich bei diesen Firmen um Symbole des kapitalistischen Systems handelt, scheint Heide Oestreich nicht zu interessieren.
Besonders grotesk mutet es an, wenn sie sich Sorgen um die „deutsche Wettbewerbsfähigkeit“ macht. Deutsche Unternehmen könnten nämlich keine Aufträge aus Frankreich und Spanien bekommen, weil beispielsweise in Spanien öffentliche Aufträge bevorzugt an Firmen vergeben werden, die die Frauenquote einhalten. In Deutschland seien jedoch kaum Frauen in Toppositionen der Wirtschaft.(23)
Mit solchen „Argumenten“, mit dem Mythos „gemischte Teams arbeiten effizienter“(24) und unter dem Deckmantel von „Emanzipation“, „Gleichberechtigung“, „Gleichstellung“, „Chancengleichheit“ und „Diversity“ werben Heide Oestreich und andere taz-Journalistinnen nicht nur für einen hemmungslosen Karrierismus, sondern auch für eine Politik der Privilegierung einer kleinen Gruppe von Frauen, kurz: für eine Lobby– und Klientelpolitik. Auch damit werfen sie wichtige linke Ideale über Bord, denn eine linke Politik kann keine Politik der Privilegierung sein und schon gar nicht eine Lobby- und Klientelpolitik.(25)
Gründe für die Rehabilitierung des Karrierismus
Für die Rehabilitierung des Karrierismus in der linksalternativen Bewegung können unterschiedliche Gründe genannt werden. Ein Grund dafür liegt darin, dass viele Alternativprojekte gescheitert sind. Sie haben sich als unrentabel erwiesen. Sie konnten nicht mit den Unternehmen, die nach den üblichen Regeln der kapitalistischen Arbeits- und Produktionsweise funktionieren, mithalten.
Ein weiterer Grund besteht darin, dass sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks die Marktwirtschaft als alternativlos herausgestellt hat. Viele Linke haben damals die Suche nach alternativen Wirtschaftskonzepten aufgegeben.
Häufig wird der Grund genannt, dass sich viele Linke an den „neoliberalen Mainstream“ angepasst haben. Das gilt für die Grünen und die SPD sowie große Teile der Frauenbewegung.(26)
Ich möchte hier einen weiteren Grund für die Rehabilitierung des Karrierismus erläutern: Den Einfluss der Postmoderne auf die linksalternative Bewegung, insbesondere auf die Frauenbewegung. Während Karl Marx und die Repräsentanten der Kritischen Theorie die Ideale des Humanismus und der Aufklärung wie die besondere Stellung des Menschen, personale Unabhängigkeit, Selbstbestimmung (Autonomie), Emanzipation (Befreiung von allem, was den Menschen behindert) und Vernunft mit ihren allgemeingültigen Maßstäben des Denkens und Handelns vertreten, werden sie von den Denkern der Postmoderne wie Michel Foucault, Jacques Derrida, Jacques Lacan u.a. abgelehnt.
Für Foucault, den prominentesten Denker der Postmoderne, sind die genannten Ideale Mythen, die es zu überwinden gilt. Er spricht sogar vom „Ende des Menschen“.(27) Der Mensch steht somit nicht im Mittelpunkt der Welt und der Geschichte. Er ist bloß eine soziale Konstruktion. Foucault weist in diesem Zusammenhang nicht nur die Annahme eines erkennenden Subjekts im Sinne des cartesianischen cogito, sondern auch die eines praktischen Subjekts, das z.B. Emanzipationsansprüche erhebt, zurück.
Ihm zufolge kann es kein allgemeingültiges Wissen geben; jegliches ist relativ zum sozio-kulturellen und geschichtlichen Kontext. Es ist außerdem immer machtgeleitet und parteiisch. Macht durchdringt nach Foucault die ganze soziale Welt und hat eine positive Funktion. Dabei lässt es sich nicht zwischen legitimer und illegitimer Macht, zwischen „guter“ und „schlechter“ Macht unterscheiden, denn Foucault lehnt die humanistischen und aufklärerischen Werte, die eine solche Unterscheidung ermöglichten, ab. Mit Hilfe seiner Position lässt sich daher eine nihilistische, skrupellose Machtpolitik leicht rechtfertigen. Der Karrierismus ist ein integraler Teil dieser Politik.
Auch in der linksalternativen Frauenbewegung ist der Einfluss der Postmoderne deutlich zu sehen. Judith Butler, die Begründerin der Gender–Theorie, knüpft an postmoderne Philosophen, insbesondere an Michel Foucault und Jacques Derrida, an. Geschlecht wird von ihr als eine soziale Konstruktion aufgefasst, und zwar nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische (sex).(28) Geschlecht wird durch „Machtformationen“ kulturell konstruiert, und zwar im Rahmen von „Diskursen“, durch „diskursive Praktiken“. Was konstruiert werden kann, kann auch dekonstruiert werden. In Anlehnung an den Begriff „Dekonstruktion“ von Jacques Derrida ist Butler daran interessiert, die Zweigeschlechtlichkeit (Mann-Frau), die sie ebenfalls als eine soziale Konstruktion auffasst, zu dekonstruieren.
Die Konsequenz davon ist ein „postmodernes Ein-Geschlecht-Modell“: „Frauen sind Männer, bloß anders“.(29) In anderen Worten: Frauen sollen so wie Männer sein, so wie Männer handeln und arbeiten; sie sollen in die Arbeitswelt gedrängt werden und dort Karriere machen. Trotz aller Reden über Lockerung der Zweigeschlechtlichkeit, Flexi-Identitäten und Diversity werden Geschlechter uniformiert, um sie marktkonform zu machen.
Die von Judith Butler begründete Gender-Theorie stellt eine theoretische Grundlage für das politische Programm Gender Mainstreaming dar, das 1995 auf der Weltfrauenkonferenz in Beijing beschlossen wurde und die „dritte Frauenbewegung“ eingeleitet hat. Es wurde zu einem Leitfaden der Politik in den westlichen Ländern. Auch sein Ziel ist es, den Geschlechterunterschied zwecks besserer Anpassung an die Erfordernisse des Marktes zu nivellieren. Die dritte, postmoderne Frauenbewegung agiert
„in einer Grauzone von Perspektiven der Intersektionalität, eines feministisch geschminkten Neoliberalismus und eines damit zusammenhängenden, aus den 1990er Jahren überkommenen linksfeministischen Popkulturalismus á la ´Missy`, bis hin zu den ´Feuchtgebieten` und nicht zuletzt ebenso implizit konkurrenzorientierten Alpha-Mädchen-Behauptungen.“(30)
Als maßgeblicher Grund für die Rehabilitierung des Karrierismus in der linksalternativen Bewegung kann der Einfluss der Postmoderne angesehen werden. Die Lancierung der postmodernen Ideologie unter den Linksalternativen hat zum Verzicht auf wichtige linke Ideale geführt. Diese Entwicklung ist nicht nur ideeller Art und beschränkt sich nicht nur auf intellektuelle Debatten. Sie hat darüber hinaus einen immensen Widerhall in der politischen Praxis gefunden. Das kann anhand des Siegeszuges der dritten, postmodern inspirierten Frauenbewegung, des Gender Mainstreamings, deutlich gezeigt werden.
Quellen:
(1) Karl Marx, Die Frühschriften, Siegfried Landshut (Hrsg.), Stuttgart 1971, S. 361.
(2) Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, in: Ders. Gesamtausgabe Bd. 4, Rainer Funk (Hrsg.), Stuttgart 1980, S. 90.
(3) Erich Fromm, Haben und Sein, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 2, Rainer Funk (Hrsg.), Stuttgart 1980, S. 374.
(4) Erich Fromm, Psychoanalyse und Ethik, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 2, Rainer Funk (Hrsg.), Stuttgart 1980, S. 50.
(5) Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 4, Rainer Funk (Hrsg.), Stuttgart 1980, S. 102f.
(6) Ebd., S. 103.
(7) Erich Fromm, Psychoanalyse und Ethik, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 2, Rainer Funk (Hrsg.), Stuttgart 1980, S. 51.
(8) Ebd., S. 53.
(9) Erich Fromm, „Psychoanalyse als Wissenschaft“, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 8, Rainer Funk (Hrsg.), Stuttgart 1981, S. 20.
(10) Christoph Conti, Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegung in Deutschland von 1890 bis heute, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 109.
(11) Karl-Werner Brand u.a., Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1986, S. 154.
(12) Bernd Guggenberger, „Am Ende der Arbeitsgesellschaft – Arbeitsgesellschaft ohne Ende?“, in: Frank Benseler u.a. (Hrsg.), Zukunft der Arbeit. Eigenarbeit, Alternativökonomie?, Hamburg 1982, S. 76.
(13) Christoph Conti, op. cit., 1984, S. 170.
(14) Walter Hollstein, Die Gegengesellschaft. Alternative Lebensformen, Bonn 19802, S. 142.
(15) Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993, S. 312ff.
(16) Gerd Vonderach, „Eigeninitiativen – Beginn einer ´kulturellen Mutation`?“, in: Frank Benseler u.a. (Hrsg.), op. cit. 1982, S. 44.
(17) Karl-Werner Brand u.a., op. cit. 1986, S. 140f.
(18) Walter Hollstein, op. cit. 19802.
(19) Bascha Mika, Die Feigheit der Frauen. Rollenfallen und Geiselmentalität. Eine Streitschrift wider den Selbstbetrug, München 2011, S. 195.
(20) Simone Schmollack, „Was Frauen wollen“, taz 10.09.2013:
http://www.taz.de/!5059429/
und „Frauen, geht arbeiten“, taz 16.05.2011:
http://www.taz.de/!5120643/
(21) Simone Schmollack, „Ein ´Ritt auf der Schnecke`“, taz 21.01.2015:
http://www.taz.de/!5022995/
und „Platz frei für die Frauen“, taz 18.11.2013:
https://www.taz.de/SPD-und-Union-fuer-30-Prozent-Quote/!5054689/
(22) Heide Oestreich, „Saubere Arbeit bei Persil“, taz 16.11.2012:
http://www.taz.de/!5079282/
(23) Heide Oestreich, „Wettbewerbsvorteil Frauenquote“, taz 02.04.2012:
http://www.taz.de/!5096978/
(24) Heide Oestreich, „Frauen zahlen sich aus“, taz 16.03.2010:
http://www.taz.de/!5145938/
(25) Interview mit Günter Buchholz, „Feministische Dichotomie – Männer versus Frauen“, Cuncti 20.03.2012:
http://www.cuncti.net/geschlechterdebatte/277-feministische-dichotomie-maenner-versus-frauen
(26) Interview mit Günter Buchholz, „Die politische Linke und der Feminismus“, Le Bohémien 26.09.2013:
http://le-bohemien.net/2013/09/26/politische-linke-und-feminismus/
(27) Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1971, S. 460f.
(28) Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursive Grenze des Geschlechts, Berlin 1995, S. 21.
(29) Roswitha Scholz, Das Geschlecht des Kapitalismus. Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Kapitals, Bad Honnef 2011, S. 160.
(30) Ebd., S. 212.
Ich studierte Philosophie, Soziologie und Sprachwissenschaften.
Meine Doktorarbeit schrieb ich über den Begriff der Lebenswelt.
Ich stehe in der Tradition des Humanismus und der Philosophie der Aufklärung. Ich beschäftige mich vorwiegend mit den Themen "Menschenrechte", "Gerechtigkeit", "Gleichberechtigung" und "Demokratie".
In meinen Büchern lege ich besonderen Wert auf Klarheit und Verständlichkeit der Darstellung. Dabei folge ich dem folgenden Motto des Philosophen Karl Raimund Popper: „Wer’s nicht einfach und klar sagen kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann“.