Von der Freiheit zu gehorchen
Nicht frei, wie meinen Sie das? Sie können in einen Verband bluten oder aufs Kopfkissen. Auch Alternative genannt. (Günter Eich)
Symptomatisch für die gewandelte Einstellung gegenüber Andersdenkenden in Deutschland ist der Synonym-Duden. Die 2. Auflage von 1986 enthält noch einen Eintrag »Querdenker«, für den als Synonym »Schrittmacher« angegeben wird. Die 7. Auflage von 2019 hingegen kennt den »Querdenker« gar nicht mehr, dafür ist der »Querkopf«, der 1986 nur ein einziges Synonym enthielt (»Trotzkopf«), ausschließlich negativ erweitert und auf 17 Synonyme aufgebläht worden, darunter »Trotzkopf«, »Dickschädel«, »Sturkopf«, »Kratzbürste«, »sturer Bock«.
Das dürfte die Einstellung der Elite widerspiegeln, die nun mal nicht gern vom Volk gestört werden möchte. Sie schätzt Jasager, Rebellen sind ihr mindestens verdächtig und in der Regel ein Dorn im Auge. Politiker haben es noch nie gern gesehen, dass sie dem Souverän, dem gegenüber sie rechenschaftspflichtig sind, Rede und Antwort stehen müssen, und deshalb stets nach Möglichkeiten gesucht, sich gegen Kritik von seiner Seite zu verwahren. Das Eintreten von Türen und die Errichtung von Galgen sind heutzutage nicht mehr das Mittel der Wahl, lieber macht man Andersdenkende mundtot, indem man vorgibt, zum Schutz der Bevölkerung und des Staates (was in Wahrheit Regierung meint) Hass und Hetze unterbinden zu wollen.
Deshalb werden derzeit national und international entsprechende Gesetze installiert. Etwa das »Gesetz zur Bekämpfung des Rechtextremismus und der Hasskriminalität«, von dem die ehemalige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) behauptet, es sei nötig, weil Hass und Hetze in den sozialen Medien massiv zugenommen hätten, obwohl sie nicht in der Lage ist, Belege für ihre Behauptung auf den Tisch zu legen und die Kriminalstatistik das Gegenteil beweist. Die »Zentralstelle für Cyberkriminalität« in NRW beispielsweise kommt trotz Aufstockung von Personal und breiter medialer Berichterstattung nach einem Jahr gerade mal auf 120 Beschuldigte in ganz Deutschland. Eine Gefährdung für die Demokratie lässt sich daraus kaum ableiten. Eher schon die Finanzierung genehmer Aktivisten und staatshöriger Organisationen, die zwar ihrerseits nicht selten Hass und Hetze verbreiten und die Bevölkerung spalten, aber eben im Sinne der Herrschenden und daher unbeanstandet.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Präsident des Bundesverfassungsschutzes Thomas Haldenwang (CDU) lassen inzwischen die Maske der Rechtsstaatlichkeit fallen, wenn sie Unschuldsvermutung, Bank- und Steuergeheimnis preisgeben, massiv auf den öffentlichen Diskurs Einfluss nehmen und mit vagen Definitionen »Vorfeldaufklärung« betreiben wollen, um jeden, der die falsche Gesinnung zeigt, drangsalieren, aus dem öffentlichen Dienst entfernen, von finanzieller Unterstützung abschneiden oder an der Ein- oder Ausreise hindern und Vorfälle ohne jede strafrechtliche Relevanz als »staatswohlgefährdend« deklarieren zu können. Faesers Pläne zielen dabei explizit auf »verbale und mentale Grenzverschiebungen« bzw. »Denk- und Sprachmuster«.
Die EU will künftig »Hassverbrechen« in dieselbe Kategorie wie Terrorismus und Kinderpornografie einordnen, obwohl das EU-Parlament selbst darauf hinweist, dass es keine juristisch taugliche Definition von »Hasskriminalität« gibt und dem Missbrauch daher Tür und Tor geöffnet sind. Als »Hassverbrechen« gilt bereits, wenn jemand darauf besteht, dass es nur zwei Geschlechter gibt.
Versuche, die Meinungsfreiheit durch internationale »Hassrede«-Gesetze einzuschränken,
gibt es mindestens seit den späten 1940er Jahren. (Coleman, 2020, S. 51-78) »Ein zuverlässiger, gut dokumentierter Beleg, dass ›hasserfüllte‹ oder ›beleidigende‹ Sprache allein Gewalttaten und andere kriminelle Verhaltensweisen verursacht, wurde bisher nicht geliefert.« (ebd., S. 134) Deshalb sind »Hassrede«-Gesetze auch »bewusst ungenau formuliert und werden willkürlich durchgesetzt« (ebd., S. 41) Denn je leichter man es jemandem macht, einen anderen anzuzeigen, je mehr Organisationen sich damit beschäftigen und ihr Einkommen damit verdienen, desto mehr Anzeigen wird man bekommen, was wiederum dazu dient, eine Zunahme von Hass zu behaupten. Zudem verlagert ein solch schwammig definiertes Delikt den Fokus von objektiven Tatbeständen hin zu subjektiver Wahrnehmung. Lobbygruppen und Aktivisten sind denn auch stets bestrebt, solche Gesetze für ihre Interessen auszuweiten. »Sobald die Prämisse, dass der Staat die öffentliche Debatte durch den Gebrauch des Strafrechts kontrollieren, regulieren und zensieren muss, akzeptiert wird, gibt es bei den Einschränkungen, die man der Redefreiheit auferlegen kann, keinerlei erkennbare oder logische Anhaltspunkte, wo man dem ein Ende setzen sollte; es zählt vor allem die politische Stärke derjenigen Gruppen, die geschützt werden wollen.« (ebd., S. 78) »Die große Mehrheit der ›Hassrede‹-Gesetze schützt Menschen nur dann, wenn sie sich selbst einer bestimmten ›Gruppe‹ zugehörig definieren – und diese geschützten Gruppen sind oft diejenigen mit dem größten politischen Einfluss.» (ebd., S. 44)
Leugnen, framen, diffamieren
Die Mächtigen und ihre Steigbügelhalter leugnen selbstverständlich die Existenz von Maulkörben und versuchen, Kritik daran mit Strohmann-Argumenten vom Tisch zu wischen. »Wer hindert Sie daran, Ihre Meinung zu sagen?«, fragt Heiko Maas (SPD). »Die Meinungsfreiheit ist vielleicht so frei wie nie«, behauptet der Volksverpetzer. Der Stern titelt gar: »Die ›Cancel Culture‹ ist eine radikale Wahnvorstellung«
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) erklärt die Warnung vor einer Einschränkung der Meinungsfreiheit zum »längst ausgeleierten Klischee aus der reaktionären Mottenkiste« und versucht, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, indem er selbst eine Taktik aus der Mottenkiste anwendet und jeden Kritiker einfach als rechts denunziert. Damit nicht genug wirft er denen, die vom Gesinnungsterror bedroht sind, vor, sie hätten ein Problem mit Widerspruch.
Ähnlich Patrick Bahners, der lange das Feuilleton der FAZ leitete und eine Cancel Culture »nicht erkennen kann« (3:05): »Cancel Kultur ist de facto (…) ein rechter Kampfbegriff, im Grunde ein rechtspopulistischer Kampfbegriff.« (35:40) und Menschen, die das beklagen, wollten sich bloß damit schmücken. »Genau wie man sich eben schmückt, damit dass man angeblich gecancelt worden ist, so schmückt man sich auch eben mit dem Titel umstritten zu sein.« (40:00)
Eric Frey, leitender Redakteur bei Der Standard, glaubt: »Im Vergleich zu früher haben wir heute viel weniger Cancel Culture, die Gesellschaft ist offener geworden, sie ist freier geworden, man kann viel mehr sagen, als man je konnte«, allerdings entstünden für einzelne Personen manchmal Grenzen und Situationen, »wo sie auch zum Opfer werden oder sich zumindest auch als Opfer fühlen.« (37:25) Wer Shitstorms aushalten muss, wer sozial geächtet wird, wem der Job oder die Wohnung gekündigt wird, der hat also gar kein echtes Problem, der »fühlt« sich nur als Opfer. Zynischer kann man es wohl kaum ausdrücken. Frey weiter: »Die meisten aber, die heute beklagen, dass wenn sie das Falsche sagen, dass ihnen dann irgendwelche Konsequenzen drohen, (…) denen passiert gar nichts und die (…) stilisieren sich zum Opfer. (…) Das ganze Internet ist voll von denn, die angeblich Opfer der Cancel Culture sind und so laut schreien, dass man sie gar nicht überhören kann.« (38:30)
Alles Einbildung also. Und wenn es Probleme gibt, dann schadet das der Popularität der Opfer nicht, im Gegenteil. So jedenfalls der Tenor derer, die nichts zu befürchten haben, weil sie sich stets stromlinienförmig dem System anpassen. Wie Patrick Bahners, der in seinen Büchern etwa zum Islam oder zur AfD die Grenzen der politischen Korrektheit nie überschreitet. Wie Eric Frey, der Ungeimpften vorwirft, sie seien »schuld an dieser vierten Welle. Sie verdienen keine Nachsicht, sondern Wut.« Wie Frank-Walter Steinmeier, der gern alle Unterschiede und Probleme, an deren Entstehung er wie etwa bei der Spaltung der Bevölkerung in der Coronakrise selbst mitgewirkt hat, mit salbungsvollen Worten zubetoniert. Sie alle merken nichts von einer Cancel Culture. Wer mit dem Strom treibt, spürt keinen Widerstand. Wie überraschend!
Cancel Culture in Aktion
Stets verweisen die Leugner der Cancel Culture auf ein paar Prominente wie Lisa Eckhart oder Dieter Nuhr, deren Karrieren durch Anfeindungen oder Auftrittsverbote keinen Schaden genommen haben. Abgesehen davon, dass das nichts über die psychischen Belastungen der Betroffenen aussagt, machen sie damit all diejenigen unsichtbar, die nicht im Rampenlicht stehen und daher Angriffen auf ihre Existenz wehrlos ausgeliefert sind.
Wie der Feuerwehrmann, der den Bauern bei den Bauernprotesten zustimmend winkte und dem jetzt nicht nur ein Disziplinar-, sondern sogar ein Strafverfahren droht. Wie die Polizistin, die Kritikern der Corona-Schutzmaßnahmen mit einer Herz-Geste ihre Sympathie bekundete und dafür ebenfalls disziplinarisch belangt und mit Forderungen nach ihrer Entlassung konfrontiert wurde. Und wer jetzt mit dem Argument »Verstoß gegen die Neutralitätspflicht« kommt, der möge bitte erklären, weshalb es auf der anderen Seite keinen Verstoß gegen die Neutralitätspflicht darstellt, wenn Frank-Walter Steinmeier Konzerte linksradikaler Musikgruppen bewirbt und rechte Parteien verunglimpft oder Olaf Scholz und Annalena Baerbock an Demonstrationen gegen ihre politischen Gegner teilnehmen.
Was ist mit all den Studenten, die schlechtere Noten bekommen, weil sie nicht gendern? Etwa Lukas Honemann an der Uni Kassel oder Johannes Ahrendt an der Uni Postdam? Oder den Studenten an der Paracelsus-Uni Salzburg, die damit rechnen müssen, dass nicht-gegenderte Arbeiten gar nicht erst angenommen werden? Was ist mit Menschen wie dem Soziologen Klaus Roggenthin, der sich für die Belange von Straftätern einsetzte und nicht zuletzt wegen deren oftmals geringeren Bildungsstand auf das Gendern verzichten wollte? Nicht nur, dass er gezwungen wurde, einen Vortrag auf einer Mitgliederversammlung, der zur Klärung dienen sollte, abzubrechen und eine geplante Diskussion im Anschluss abgewürgt wurde, nicht nur, dass Vorstandsmitglieder ihn immer wieder persönlich angriffen und schikanierten, ihm wurde schließlich kurzerhand gekündigt.
Selbst Menschen, die als Schauspieler, Journalisten, Wissenschaftler, Juristen nicht ohne Einfluss sind, haben einer existenziellen Bedrohung durch die Cancel Culture wenig entgegenzusetzen.
Beispielweise die Journalistin Katrin Seibold, die sich bemühte, objektiv zu berichten, und nach 18 Jahren als freie Mitarbeiterin vom ZDF nicht weiter beschäftigt wurde, weil Redaktionssitzungen von ihr »immer wieder für Kritik am System genutzt« worden seien, was bei den »Kolleg:innen erhebliche Störgefühle ausgelöst« hätte. Oder der SWR-Mitarbeiter Ole Skambraks, der die Einseitigkeit der Berichterstattung öffentlich kritisierte und daher gefeuert wurde.
Beispielsweise Jürgen Mladek, damaliger Chef vom Nordkurier, der sich in der Berichterstattung seiner Zeitung nicht an die unausgesprochenen Grenzen erlaubter Meinungen hielt und sich daher einer Verleumdungskampagne des linksradikalen »Haltungsjournalisten« Benjamin Friedrich ausgesetzt sah, die ihn psychisch so belastete, dass er eine Auszeit nehmen musste, und zu der Aussage brachte, er sei in diesem vergifteten Klima froh, dass seine Kinder nicht seinen Nachnamen trügen.
Beispielsweise all die Kritiker herrschender Zustände, denen ohne Vorankündigung und mit fadenscheinigen Begründungen, wenn überhaupt, die Bankkonten gekündigt werden wie Boris Reitschuster, KenFM, Oval Media, dem Verein Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie und dem Journalisten Alexander Wallasch, dessen Bank der anonymen Denunziation eines Internettrolls nachgab (»Schaut mal, wen ihr da als Kunden habt«), ein mittlerweile übliches Vorgehen eines entfesselten totalitären Mobs. Oder diejenigen, denen PayPal aus ideologischen Gründen die weitere Nutzung verbietet wie Reitschuster und den Betreibern von ScienceFiles, denen dadurch der Erhalt von Spenden erschwert wird. Oder alternative Medien wie die Achse des Guten, denen die Feinde demokratischer Spielregeln versuchen, Werbekunden abspenstig zu machen. In dessen Verlauf sich übrigens herausstellte, dass der Volkswagenkonzern schwarze Listen führt.
Beispielsweise die Schauspieler, die mit ihrer Aktion #AllesDichtMachen die Lockdownmaßnahmen der Regierung kritisierten und vom Tagesspiegel und einem anonymen Recherchenetzwerk Antischwurbler mit erfundenen Verschwörungstheorien zur Räson gebracht werden sollten. Stephanie Weyand (SPD) nahm dies gar als Anlass, dafür zu sorgen, dass einem der Teilnehmer der Aktion die Arbeitsstätte gekündigt wurde.
Beispielsweise der Amtsrichter Christian Dettmar, an dem ein Exempel statuiert werden soll, weil er sich während der Corona-Maßnahmen nicht systemkonform verhalten hat, und gegen den derzeit ein Strafverfahren läuft, das nach Ansicht des Netzwerks Kritische Richter und Staatsanwälte auf »unmenschliches Strafrecht« hinausläuft.
Beispielsweise der Immunologe und Toxikologe Stefan Hockertz, der sich abweichend von der Regierungslinie zu Corona äußerte, dafür einer Hausdurchsuchung ausgesetzt war und bei der Rückgabe seiner IT-Geräte feststellen musste, dass darauf Staatstrojaner installiert worden waren. Seine Konten wurden gesperrt, ein Pfändungsbeschluss wegen angeblicher Steuerschuld über 820.000 Euro wurde erlassen, woraufhin Hockertz ins Ausland floh, um der Ruinierung seiner beruflichen Existenz zu entgehen.
Beispielsweise der Arzt Thomas Binder, der wegen angeblicher Verschwörungstheorien und Drohungen während Corona festgenommen und in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde. Ähnlich wie die Juristin Beate Bahner, die wegen eines Aufrufs zu Demonstrationen und eines Eilantrags für die Aufhebung aller Corona-Schutzmaßnahmen ebenfalls in die Psychiatrie eingewiesen wurde.
Aus welch lächerlichen Gründen jemand unter die Räder der Empörungsmaschinerie selbstgerechter Cliquen von Bessermenschen geraten kann, können wir im Übrigen in den USA beobachten. Dort wurden zwei langjährige Angestellte eines US-Baseball-Teams mit sofortiger Wirkung gefeuert, weil einer von ihnen Witze erzählte und der andere darüber lachte, als sich die beiden allein in einem Raum befanden, wobei sie von einer Mitarbeiterin im Raum nebenan belauscht wurden, die das Ganze heimlich mit ihrem Mobiltelefon aufzeichnete.
Fazit
Aktivisten und totalitäre Gruppen bestimmen mittlerweile, was gesagt werden darf und was nicht, und zerstören gnadenlos das Leben eines jeden, der nicht ihrer Meinung ist. »Der einzige Schutz vor dem Pöbel ist es, Teil des Pöbels zu werden. Stillschweigen bedeutete einmal die Möglichkeit, dazuzugehören. Heute wird Stillschweigen als Widerstand wahrgenommen. Jeder muss sich erheben und Stalin applaudieren – und derjenige, der sich als Erster wieder hinsetzt, wird in den Gulag geschickt.« (Shapiro 2022, S. 30)
Die angeblich nicht existierende Cancel Culture ist für viele Menschen bittere Realität. Andersdenkende werden mit Diffamierungen, Drohungen, Shitstorms, Denunziationen und Kündigungen wirtschaftlich und / oder sozial geschädigt oder gar vernichtet. Zugleich wird damit ein Klima der Angst geschaffen, dass den Rest der Bevölkerung diszipliniert und Konformität erzwingt. »Überall lauern die Wächter über die ideologische Korrektheit der öffentlichen Debatte. Und das ist ein großes Problem. Denn die öffentliche Debatte lebt davon, dass sie offen geführt wird. Sie lebt davon, dass sie alles umfasst: das unbedachte Wort ebenso wie die gezielte Provokation. (…) Cancel Culture ist die Bezeichnung für eine Debattenkultur, bei der Meinungen nicht kritisiert, sondern unterdrückt werden.« Ziel der »Cancel Culture« ist die systematische Boykottierung, Verbannung und Annullierung von Werken und Personen aus dem öffentlichen Leben.
Der US-Autor Jonathan Rauch hat eine Checkliste mit sechs Warnzeichen erstellt, die den Lackmustest dafür erbringen, ob es sich bei einer Konfrontation um einen möglicherweise heftigen, aber legitimen Widerspruch oder um Cancel Culture handelt. Letzteres ist der Fall, wenn versucht wird, dem Kritiker die Lebensgrundlage zu entziehen oder ihn sozial zu isolieren. Wenn versucht wird, ihn daran zu hindern, seine Gedanken öffentlich zu verbreiten. Wenn eine konzertierte Aktion gegen ihn auf die Beine gestellt wird. Wenn Freunde, Kollegen, Unterstützer bedroht werden. Wenn der Angriff moralisierend, denunzierend und persönlich erfolgt. Wenn mit Lügen, Wortverdrehungen, falschen Anschuldigungen operiert wird.
Wer totalitäre Bestrebungen als Verteidigung der Demokratie begrüßt und gleichzeitig eine bloße Meinungsverschiedenheit als Hass, Bedrohung oder gar Akt der Gewalt bezeichnet, wer darüber hinaus bereit ist, 15 oder 20 Prozent der Bevölkerung als Staatsfeinde auszugrenzen oder gar jene 46 Prozent, die nach einer Umfrage von 2022 der Ansicht sind, ihre Meinung nicht mehr frei aussprechen zu können, hat mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nichts im Sinn und strebt offensichtlich eine Diktatur von Seinesgleichen an. Es gilt nämlich nach wie vor – und heutzutage mehr denn je –,
was Sebastian Haffner bereits vor Jahrzehnten schrieb:
»Manches von dem, was später zu Hitlers effektvollsten Folterinstrumenten gehören sollte, wurde von Brüning eingeführt (…). Dabei tat er das alles, paradox genug, im tiefsten Grunde zur Verteidigung der Republik. (…) Meines Wissens ist das Brüningregime die erste Studie und, sozusagen, das Modell gewesen zu einer Regierungsart, die seither in vielen Ländern Europas Nachahmung gefunden hat: die Semi-Diktatur im Namen der Demokratie und zur Abwehr der echten Diktatur.«
Quellen:
- Günter Eich: Fünfzehn Hörspiele (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979) S. 599
- Coleman, Paul: Zensiert. Wie europäische Hassrede-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen (Fontis, Basel 2020)
- Shapiro, Ben: Der autoritäre Terror. Wie Cancel Culture und Gutmenschentum den Westen verändern (LMV Langen Müller, München 2022)
- Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und München 2000) S. 8
- Duden: Sinn- und sachverwandte Wörter (2. Auflage, Mannheim-Wien-Zürich 1986)
- Duden: Das Synonym-Wörterbuch (7. Auflage, Berlin 2019)
Gunnar Kunz hat vierzehn Jahre an verschiedenen Theatern in Deutschland gearbeitet, überwiegend als Regieassistent, ehe er sich 1997 als Autor selbstständig machte. Seither hat er etliche Romane und über vierzig Theaterstücke veröffentlicht, außerdem Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Musicals und Liedertexte. 2010 wurde er für den Literaturpreis Wartholz nominiert.