Es sind schlimme Zeiten, wenn der Umgang mit einer Krise die Krise noch verschlimmert. Wenn Menschen gegeneinander aufgehetzt werden und sich bereitwillig gegeneinander aufhetzen lassen. Was hier gerade geschieht, ist ein Armutszeugnis für die Streitkultur in diesem Land.
Das fängt schon damit an, dass in öffentlichen Diskussionen wie immer bei emotional aufgeheizten Themen alles Mögliche miteinander verquirlt und damit jegliche Differenzierung verhindert wird. Um überhaupt sinnvoll über Fragen der Impfung reden zu können, sollte man zumindest zwei Dinge getrennt betrachten: Corona selbst und den Umgang damit.
Was Letzteres betrifft, kann man, glaube ich, nur zu dem Schluss gelangen, dass sowohl ein Totalversagen der Verantwortlichen als auch eine Instrumentalisierung der Krankheit für andere Zwecke vorliegt. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Politiker in den ersten Monaten überfordert waren und verzeihliche Fehler gemacht haben, muss man doch feststellen, dass
– diese Fehler nie eingestanden, sondern immer Sündenböcke gesucht wurden;
– bei der Logistik der Beschaffung von Impfstoffen versagt wurde;
– immer gerade die Behauptungen aufgestellt werden, die den Eliten in den Kram passen, auch wenn sie einander widersprechen („Masken nützen nichts / sind unerlässlich“);
– die politisch gewollte Reduzierung der Krankenhausbetten für genau die Engpässe auf den Intensivstationen sorgt, die heute als Coronafolgen beklagt werden;
– Fakten und Zahlen mit begrenzter Aussagekraft wie etwa die Inzidenzen manipulativ verwendet werden;
– bewusst mit Angst und Falschinformationen Panik geschürt wird;
– eine einseitige Auswahl der zu Wort kommenden Fachleute vorgenommen und keine offene Diskussion zugelassen wird;
– bis heute keinerlei Daten erhoben werden, wo genau sich die Haupt-Ansteckungsherde befinden, stattdessen auf unverantwortliche und unverhältnismäßige Weise Lockdowns betrieben und Existenzen vernichtet werden, einschließlich derer, die wie etwa viele Restaurants, Kinos, Theater frühzeitig ein Hygienekonzept vorgelegt und teilweise dafür sogar Geld investiert haben;
– eine personelle Verquickung von Politik und Pharmaindustrie stattfindet und dem Profitinteresse der Pharmaunternehmen in einem Ausmaß nachgegeben wird, das zumindest Zweifel aufkommen lässt, dass die Gesundheit der Bevölkerung für die Politik an erster Stelle steht;
– Corona genutzt wird, um die Aushöhlung der Demokratie voranzutreiben, und zwar nach Plänen, die schon Jahre zuvor von der Wirtschaftselite ausgearbeitet wurden*;
– die Bevölkerung systematisch gegeneinander aufgehetzt wird, um eigenes Versagen zu vertuschen („Teile und herrsche“).
Diese notwendige Kritik an den Maßnahmen der Regierung und der unterstützenden Berichterstattung durch die Leitmedien sagt allerdings nichts darüber aus, wie gefährlich Corona ist. Ehrlich gesagt, bin ich verwundert, dass wir plötzlich achtzig Millionen Virologen in unserem Land haben. Ich bin keiner. Ich nehme zur Kenntnis, dass es anerkannte Fachleute gibt, die gegensätzliche Einschätzungen zur Gefahr durch Corona abgeben und gegensätzliche Empfehlungen für oder gegen eine Impfung äußern, und muss meine Entscheidung daher auf der Basis unzureichender Informationen treffen. Daher kann ich nur versuchen, nach bestem Wissen und Gewissen für mich eine Gefahrenabwägung zwischen der möglichen Erkrankung durch Corona und möglichen Spätfolgen durch die Impfstoffe vorzunehmen.
Das habe ich getan und bin nach langem Zögern zu dem Schluss gelangt, dass eine Impfung das geringere Risiko darstellt. Dass jemand auch zum gegenteiligen Schluss kommen kann, liegt angesichts der unklaren Faktenlage auf der Hand und ist selbstverständlich zu respektieren, wie auch ich Respekt vor meiner Entscheidung erwarte.
Daher 1. Ich habe mich impfen lassen. 2. Ich halte es für möglich dass ich mich in meiner Einschätzung geirrt und einen Fehler begangen habe, den ich irgendwann bereuen werde. 3. Mit dieser Unsicherheit muss ich leben, ebenso wie jeder andere, egal ob geimpft oder ungeimpft.
Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass genau das der Grund dafür ist, warum Menschen ohne virologische Ausbildung in dieser Frage verhärten, kategorische Ansichten vertreten und Andersdenkende anfeinden: weil sie diese Unsicherheit nicht aushalten. Lieber klammern sie sich an die eine oder andere Ideologie und reden sich entweder ein, Impfung sei der heilige Gral oder Corona sei harmlos und ohnehin nur Lug und Trug. Und projizieren alle möglichen Fantasien auf diejenigen, die sich anders entschieden haben. Wer dem anderen einen rationalen Grund für seine Entscheidung abspricht, hat offensichtlich Angst, sich den Zweifeln an der eigenen Entscheidung zu stellen.
Das kann man auch daran erkennen, dass die Extremisten beider Couleur keinerlei Argumente hören wollen, die ihre Entscheidung infrage stellen könnten. Der Druck auf Impfgegner ist dabei natürlich deutlich größer, weil er von der Staatsmacht ausgeht, erst recht, wenn wie geplant eine Impfpflicht verordnet wird. Dennoch sind auch Impfgegner nicht über jeden Zweifel erhaben; viele von ihnen erweisen sich als nicht weniger intolerant als Impfbefürworter und tragen ihren Teil zur Verhärtung bei. Wer diejenigen, die sich impfen lassen, als gehorsame Idioten denunziert, ist keinen Deut besser als jemand, der Impfgegner als verantwortungslos bezeichnet. Beide beweisen damit zudem, dass sie sich willig die bewusst geschürte Spaltung der Gesellschaft zueigen machen.
Insofern ist Corona nicht nur eine Krankheit, sondern auch ein Demokratietest. Ein großer Teil der Bevölkerung, Impfbefürworter ebenso wie Impfgegner, hat ihn nicht bestanden.
* siehe auch S. 198ff in dem Buch Endspiel des Kapitalismus des Wirtschaftsjournalisten Norber Häring
Der Artikel erschien zuerst auf Das Alternativlos-Aquarium.
Gunnar Kunz hat vierzehn Jahre an verschiedenen Theatern in Deutschland gearbeitet, überwiegend als Regieassistent, ehe er sich 1997 als Autor selbstständig machte. Seither hat er etliche Romane und über vierzig Theaterstücke veröffentlicht, außerdem Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Musicals und Liedertexte. 2010 wurde er für den Literaturpreis Wartholz nominiert.