Die beste zweitbeste Lösung für alle
Ist das Glas eigentlich halb leer oder halb voll? Wenn man seine liberalen Idealvorstellungen mit der Realität vergleicht, dann wird man dazu tendieren, das Glas für halb leer zu halten. Wenn man als liberaler Historiker die reale und nicht geträumte Vergangenheit zum Maßstab für die Gegenwart nimmt, dann kann man gut zu dem Ergebnis kommen, dass das Glas halb voll und nicht halb leer ist.
Gemessen an den liberalen Idealvorstellungen leben wir in Europa in einer überreglementierten und ideologisch bevormundenden politischen Realität.
Vergleicht man das Europa des 17. Jahrhunderts mit unserer Wirklichkeit im Westen heute, nimmt man die Agenda der liberalen Denker von John Locke bis Adam Smith, von Montesquieu bis Wilhelm von Humboldt, dann stellt man fest, dass vieles, was zu ihrer Zeit als abwegig oder umstritten galt, heute verwirklicht ist. Die Feudalgesellschaft hat sich aufgelöst und wurde durch Marktgesellschaften ersetzt, der Verfassungsstaat hat die absolute Monarchie abgelöst, die politische Vorherrschaft der Kirchen ist in Europa und Nordamerika weitgehend gebrochen, im rechtlichen Sinne hat der Staatsbürger den Untertanen ersetzt, die Prinzipien der Gleichheit vor dem Gesetz und die Individual- und Eigentumsrechte werden zwar immer wieder unterminiert, sind aber im Großen und Ganzen akzeptiert. Vergleicht man das, was gemeinhin unter „Liberalismus“ verstanden wird, mit dem, was heute gemeinhin unter dem „Westen“ verstanden wird, dann zeigt sich, dass beide Begriffe sich so weit überschneiden, dass sie geradezu als Synonym verwendet werden können. Es ist nicht überzogen, die These aufzustellen, dass der Liberalismus die erfolgreichste politische Weltanschauung der letzten 400 Jahre ist.
Der Niedergang der konkurrierenden Weltanschauungen
Der Erfolg des liberalen Gesellschaftsmodells wird besonders deutlich, wenn man diese Wirkung mit der der weltanschaulichen Konkurrenten vergleicht. Im 19. Jahrhundert gab es noch ernsthaft diskutierte ideologische Alternativen: den (Neo-) Absolutismus, Ultramontanismus, den utopischen Sozialismus, den Ständestaat, den Kommunismus. Hundert Jahre später haben sich Konservative, Sozialdemokraten, Nationalpatrioten, Ökologisten alle mehr oder weniger eindeutig im liberalen Rechts- und Verfassungsstaat eingerichtet, pochen auf ihre Bürgerrechte und debattieren darüber, wie der Überschuss verteilt werden kann, der im marktwirtschaftlich verfassten Teil der Volkswirtschaft erwirtschaftet wird. Absolutismus, Theokratie, Ständestaat, Kommunismus, Syndikalismus und utopischer Sozialismus sind faktisch aus der großen politischen Debatte über die Zukunft Europas ausgeschieden und werden heute allenfalls noch in kleinen Zirkeln und Splittergruppen als mögliche Alternative diskutiert. Die katholische und die protestantische Kirche argumentieren heute ebenso auf der Basis des liberalen Rechtsstaats wie die Gewerkschaften. Was heute im Westen als konservativ gilt, wäre im 19. Jahrhundert locker als ultraliberal durchgegangen. Die Sozialdemokratie in Europa steht zwar für Steuererhöhungen und Konjunkturprogramme, aber grundsätzlich will sie die Kuh nicht schlachten, die sie melkt. Eine revolutionäre politische Vision wie im 19. Jahrhundert hat sie nicht mehr.
Der Liberalismus ist die erfolgreichste Weltanschauung der Neuzeit
Diese historische Entwicklung ist insoweit erstaunlich, als dass es gleichzeitig kaum eine politische Weltanschauung gab, die so sehr gehasst und verachtet worden ist wie der Liberalismus. Von allen politischen Seiten und Richtungen aus wurde der Liberalismus angegriffen und abgelehnt. Dabei ist aufschlussreich, dass sich der Grundtenor der Kritik in den letzten Jahrhunderten nicht grundsätzlich geändert hat. Schon lange bevor es den Begriff „Liberalismus“ überhaupt gab, wurde seinen Vordenkern vorgeworfen, dass ihre Ideen die soziale Ordnung zerstören und zu Egoismus und Unmoral führen würden. Als im frühneuzeitlichen England die Allmende aufgelöst und durch private Parzellen ersetzt wurde, predigten die Pfarrer dagegen, dass das neue Prinzip des Landeigentums der Gottlosigkeit Vorschub leisten werde. Im 19. Jahrhundert sprachen die Kritiker vom „Manchester“-Liberalismus, heute definiert man ihn als „Neoliberalismus“. Dennoch haben sich liberale Vorstellungen und Konzepte von Individualismus, Rechts- und Verfassungsstaat, Säkularismus, Religionsfreiheit und Marktwirtschaft in einem erstaunlichen Maße durchgesetzt. Sicher nicht absolut, sicherlich stark überlagert durch andere Tendenzen, aber doch so weitgehend, wie es kaum zu erwarten gewesen war, als Hobbes, Locke, Hume und Smith ihre Gesellschaftsentwürfe vorlegten. Der Liberalismus musste offenbar nicht geliebt werden, um viele seiner Prinzipien zur Geltung zu bringen.
Das Rätsel: Der Erfolg einer nüchternen Idee ohne Massenemotionen
Dass der Liberalismus im Vergleich zu anderen konkurrierenden Weltanschauungen so erfolgreich sein konnte, dass im Grunde das Angesicht der Welt durch internationale Arbeitsteilung, freien Handel, Verfassungen und Eigentumsrechte und Vertragsfreiheit in einer Weise und mit einer Konsequenz umgeformt wurde, wie es nie zuvor in der Geschichte der Menschheit geschehen war, ist im Grunde ein Rätsel ersten Ranges. Denn der Liberalismus besaß im Vergleich zum Sozialismus, Nationalismus und religiösen Fundamentalismus nur selten einen Massenanhang. Es handelt sich um eine ausgesprochen nüchterne Weltanschauung. Der Liberalismus für sich kann kaum an starke, kollektive Emotionen appellieren. Der Liberalismus hat kein jenseitiges Heilsversprechen, und die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben überlässt er dem Individuum. Der Liberalismus widerspricht im Grunde genommen den „natürlichen“ Instinkten des Menschen. Stammesdenken, Xenophobie, Neid, sozialer Konformismus, Autoritätsgläubigkeit, magisches Denken und absoluter Wahrheitsanspruch scheinen dem Menschen viel eher in den „Genen“ zu liegen, als die Akzeptanz einer abstrakten Rechtsordnung, die Annahme allgemeiner Bürger- und Menschenrechte, das Recht auf Eigentum und die Hinnahme ökonomischer Ungleichheit und religiöser und sexueller Selbstbestimmung. Wie konnte also eine Weltanschauung, die sich eine solche Selbstbeschränkung auferlegte, eine Zivilisation so tiefgreifend umformen und schließlich die Welt bis in den letzten Winkel hinein verändern? Die Antwort lautet, dass gerade die Selbstbeschränkung, der Verzicht auf einen absoluten allumfassenden Gestaltungsanspruch und die Konzentration auf einige wenige zentrale Prinzipien, wie individuelle Freiheit, Eigentumsrechte und Gleichheit vor dem Gesetz, dem Liberalismus einen großen Wettbewerbsvorteil gaben. Dieser Vorteil besteht in der Überlegenheit der konsensfähigen zweiten Wahl gegenüber der nicht konsensfähigen ersten Wahl.
Der Liberalismus als konsensfähige zweitbeste Lösung
Der Liberalismus war und ist nur für eine Minderheit der Menschen die erste Wahl, er war aber für eine Mehrheit der Menschen die zweite Wahl, wenn die erste Wahl nicht erreichbar oder der Preis, der dafür gezahlt werden musste, sie zu erreichen, zu hoch war. Da sich die große Mehrheit nicht auf die erstbeste Lösung einigen kann, setzt sich der Liberalismus oft durch, obwohl nur eine Minderheit ihn für die erstbeste Lösung hält. Grundsätzlich ist die beste Lösung vom subjektiven Standpunkt aus gesehen, dass die Gesellschaft so eingerichtet ist, wie ich sie mir persönlich wünsche. Wenn das, was ich persönlich für gut und schön halte, erlaubt und gefördert wird, und das, was ich für böse und hässlich halte, verboten und verfolgt wird, dann ist das vom subjektiven Standpunkt aus gesehen der beste Zustand, um zufrieden zu sein. Es gilt für jeden Menschen, dass die beste Gesellschaft für ihn diejenige wäre, die seinen Wünschen entspricht. Oder anders gesagt, eine Diktatur oder eine absolute Monarchie sind dann besonders attraktiv, wenn ich selbst darin der Diktator oder der absolute Monarch bin. Das heißt, wenn ich die Wahl habe zwischen einem liberalen System abstrakter Rechtsgleichheit und einem System, in dem mein Wille geschieht, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass meine Wahl auf das System fällt, in dem mein Wille geschieht. Weniger schön ist ein autoritäres System jedoch, wenn ich derjenige bin, der nach der Pfeife der anderen tanzen muss; in dem die anderen mir aufzwingen, was gut und schön ist und was böse und hässlich, und ich nicht ihnen. Die erste Wahl ist ein System, in dem alle nach meiner Pfeife tanzen, meine zweite Wahl ist ein System, in dem wenigstens ich selbst nicht nach der Pfeife der anderen tanzen muss.
Gedankenexperiment: Zwei Tore – zwei Systeme
Machen wir ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, ich werde vor zwei verschlossene Tore gestellt. Ich muss durch eines dieser Tore eintreten und bin von da an Angehöriger einer bestimmten Gesellschaft. Jedes Tor führt mich zu einer anderen Gesellschaft mit einer anderen Rechts- und Herrschaftsform. Das eine Tor führt zur Autokratie und das andere zum Liberalismus. Ich habe die Wahl zwischen einem System, in dem ein Wille und eine Ideologie absolut gelten und alle sich danach richten müssen, und einem System, in dem jeder alles mit sich selbst und seinem Eigentum tun darf, ohne die Rechte der anderen, mit sich und ihrem Eigentum genauso zu verfahren, zu verletzen. Vielleicht teile ich die Ansicht, dass es nur eine absolute Wahrheit gibt und dass diese absolute Wahrheit auch absolut zur Geltung gebracht werden sollte. Insoweit spräche vieles dafür, sich für das Tor, das zu dem autoritären System führt, zu entscheiden. Ich bin aber vor das Problem gestellt, dass ich nicht weiß, welcher absolute Wille und welche Ideologie sich hinter dem Tor zur Autokratie verbergen. Für welches Tor sollten wir uns also nach einigem Nachdenken entscheiden?
Dieses Entscheidungsszenario stellt den Anhänger eines autoritären Gesellschaftsmodells vor ein Dilemma: Er lehnt zwar eine liberale Ordnung ab und wünscht sich eine autoritäre Ordnung, aber er wünscht sich eine ganz bestimmte autoritäre Ordnung – nicht irgendeine. Ein kurdischer Nationalist hätte vielleicht kein Problem damit, sich für einen autoritären kurdischen Nationalismus zu entscheiden, aber bei der Vorstellung, unter einem autoritären türkischen Regime zu leben, dürfte ihm wohl die Lust auf eine autoritäre Ordnung vergehen. Ein ultramontaner Katholik, der den liberalen Relativismus verabscheut, hätte wohl kein Problem damit, direkt vom Papst gemäß der katholischen Glaubenslehre regiert zu werden, sollte er aber das Tor durchschreiten und sich unter einem atheistischen Autokraten oder einem protestantischen Herrscher wiederfinden, hätte er mit Zitronen gehandelt. Ein Linker wird einen starken linken Staat bevorzugen, wenn dieser Staat aber plötzlich in konservative Hände gerät, wohl schnell eine staatskritische Haltung einnehmen und umgekehrt. Es ist wahrscheinlich, dass eine große Zahl der Menschen, wenn nicht die Mehrheit derer, die grundsätzlich ein autoritäres System befürworten würden, wenn es ihren eigenen Idealen entspricht, eine liberale Ordnung einem autoritären System vorziehen, in dem die anderen das Sagen haben.
Die fehlende Einigkeit der konkurrierenden Weltanschauungen
Dieses Gedankenexperiment wirkt auf den ersten Blick ziemlich weltfremd. Im Grunde spiegelt es aber die Wirklichkeit ziemlich gut wider. Die Kritiker des Liberalismus waren stets zahlreich und oft in der Mehrheit. Ihr Problem war nur, dass sie sich nicht darauf verständigen konnten, welches System sie an die Stelle des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates setzen sollten. Da hörte dann die Einigkeit auf. Rechte, Linke, Fundamentalisten und atheistische Sozialisten sind sich in ihrer Kritik am Liberalismus einig, doch darüber hinaus haben sie gemeinsam, dass sie nicht vom anderen Lager beherrscht werden wollen. Sie mögen zwar die Liberalen nicht, aber noch weniger wollen sie unter der Fuchtel des anderen leben. Lieber leben auch Fundamentalisten, Nationalisten und Kommunisten in einem liberalen System, an dem sie von morgens bis abends nach Herzenslust herumkritisieren können, als in einem System, das sie ihren eigenen Staatsvorstellungen entsprechend bei der ersten Kritik ins Gefängnis oder ins Lager steckt. Auch Karl Marx hat das liberale England als Exil gewählt, das kapitalistischste Land der damaligen Welt, in dem er frei und ungehindert seinen Antikapitalismus verbreiten konnte. Fundamentalisten, Rechts- und Linksradikale, Faschisten, Kommunisten, Sozialisten pochen auf ihre liberalen Bürgerrechte und auf ihr Recht auf Privateigentum und gehen dafür vor Gericht und berufen sich darauf in der politischen Auseinandersetzung, obwohl es diese Prinzipien nach ihrer eigenen Weltanschauung eigentlich gar nicht geben dürfte. Damit erkennen sie direkt und indirekt genau jene Rechtsordnung an, die ihren eigenen Ordnungsvorstellungen eigentlich zutiefst widerstrebt, und verleihen ihr damit Legitimität. In vielen Fällen gewöhnten sie sich an die liberale Gesellschaft und machten ihren Frieden mit ihr und wurden damit Teil des Systems, das sie ursprünglich ablehnen und bekämpfen wollten.
Der Liberalismus als Zünglein an der Waage mit einem kompromissfähigen Modell
Der Liberalismus hat deshalb in der Regel keine Schwierigkeiten, Verbündete zu finden, und zwar immer bei der Gruppe, die fürchten muss, im politischen Machtkampf unter die Räder zu kommen. Zu dem begrenzten Kreis überzeugter Liberaler gesellen sich in unterschiedlichen Bündniskonstellationen, durch die Situation bedingt, große Kreise taktischer Liberaler. Die Geschichte hat Kommunisten gesehen, die sich für die Freiheit der Kunst eingesetzt haben, und Kirchen und Sekten, die mit Liberalen für die Religionsfreiheit gekämpft haben; Liberale kämpften mit Konservativen für Steuerreformen und mit Linken gegen den Überwachungsstaat – so weit die Linke selbst nicht an der Regierung war. Der liberalen Minderheit im Zentrum bleibt damit die Möglichkeit des Ausbalancierens zwischen den Lagern. Der Liberale verteidigt den religiösen Konservativen, wenn er vom laizistischen Staat in der Wahrnehmung seiner Bürgerrechte bedroht wird, der Liberale stellt sich auf die Seite von Schwulen und Atheisten, wenn deren Rechte vom religiösen Staat bedroht werden. Der natürliche Verbündete für den Liberalen ist der Underdog. Wer in der Minderheit ist und vom Staat bekämpft wird, der handelt nicht klug, wenn er nach dem starken Staat ruft und damit die Repression gegen sich selbst legitimiert. Der Grund, warum der Liberalismus die Stürme der Vergangenheit überstanden hat, trotz der Angriffe von allen Seiten, hat auch damit zu tun, dass sich die gegnerischen Lager gegenseitig in Schach gehalten haben und der Liberalismus als Zünglein an der Waage oft das einzige kompromissfähige Modell angeboten hat. Es ist nicht so, dass die liberale Gesellschaft historisch alternativlos ist, die Alternativen sind nur für viele so extrem unattraktiv, dass sie lieber bereit sind, mit den – ohne Zweifel vorhandenen – Zumutungen einer freien Gesellschaft zu leben als mit den Repressionen eines autoritären Systems.
Der Artikel erschien zuerst auf Eigentümlich Frei.