Wir Menschen sind in einer erkenntnistheoretischen Blase der Unwissenheit eingeschlossen, aus der es kein Entkommen gibt. Wir wissen nicht, wie die Welt jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung und unserer Begriffe von Zeit und Raum beschaffen ist.
Wie Kant feststellte, ist das Ding an sich, also die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, die wir mit unserem Bewusstsein erfassen, unerkennbar. Der Mensch steht wie jedes andere seiner selbst bewusste, denkende Wesen im Universum vor dem Dilemma, nach dem Urgrund der Existenz fragen zu können, aber durch die Begrenzung seiner Erkenntnismöglichkeiten niemals zu einer unbestreitbaren Gewissheit über diesen Urgrund zu gelangen.
Weder die Philosophie, noch die Offenbarungsreligionen kommen über diesen Ausgangspunkt der menschlichen Existenz und die natürlichen Grenzen menschlichen Wissens hinaus.
Nehmen wir den Fall an, dass ein Prophet erklärt, ein Engel habe zu ihm gesprochen, der ihm den Willen Gottes verkündet habe. Es ist nicht beweisbar, ob der Prophet tatsächlich mit einem Engel gesprochen hat oder es sich ausgedacht hat oder nur den Eindruck hatte, mit einem Engel zu sprechen. Der Prophet selbst kann nicht wissen, ob der Engel, der zu ihm gesprochen hat, tatsächlich von Gott gesandt wurde oder von jemand anderem oder auf eigene Verantwortung mit ihm gesprochen hat. Der Engel selbst kann wiederum nicht wissen, ob er wirklich von dem höchsten Wesen entsandt wurde oder von einer anderen Macht, die nur vorspiegelt, das höchste Wesen zu sein, oder selbst nicht weiß, dass es noch ein höheres Wesen gibt und so weiter. Das gilt natürlich auch für alle anderen möglichen Offenbarungsformen wie Träume, Stimmen, Zeichen, Wunder oder Eingebungen.
Auch die Offenbarungen scheitern also an diesem erkenntnistheoretischen Dilemma und führen uns nicht weiter als bis zu diesem Punkt: Es ist nicht möglich zu beweisen, dass es einen Gott gibt, es ist nicht möglich zu beweisen, dass es keinen Gott gibt. Es ist nicht möglich zu beweisen, ob es einen oder viele Götter gibt. Noch ist es möglich zu beweisen, ob es andere Formen übersinnlicher Mächte gibt, eben weil sie übersinnlich sind. Es ist nicht beweisbar oder widerlegbar, dass es Geister gibt und es ist nicht möglich zu beweisen, ob es andere Formen unsichtbarer, nicht wahrnehmbarer, nicht fühlbarer, nicht schmeckbarer, nicht ertastbarer und nicht messbarer Mächte gibt. Atheismus ist ebenso wie Christentum, Islam, Buddhismus, Polytheismus oder Dämonologie eine Glaubensfrage. Wenn man nicht an einen persönlichen Gott glaubt, dann hat man doch eine Vorstellung von Metaphysik, nämlich von einer Metaphysik ohne personellen Gott, und auch das ist nicht beweisbar.
Atheismus und Theismus sind also weniger weit voneinander entfernt, als es auf den ersten Blick erscheint. Agnostizismus ist von einer grundsätzlich anderen Qualität, denn Agnostiker können im Grunde sowohl Christen als auch Atheisten als auch Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften sein. Denn der Agnostiker sagt nicht, es gibt keinen Gott, sondern er sagt, ich kann nicht wissen, ob es einen gibt. Die Entscheidung, vor der der Agnostiker steht, lautet: Will ich spekulieren oder will ich nicht spekulieren? Der Agnostiker kann bei der Aussage bleiben: „Ich kann nicht wissen, ob es übersinnliche Wesenheiten gibt oder nicht, also will ich mich damit auch nicht befassen und darüber nicht weiter nachdenken. Die Befassung mit dem Jenseitigen und Übersinnlichen ist eine Spekulation, und ich will nicht spekulieren.“
Der Agnostiker kann aber auch, nachdem er zu der Aussage gelangt ist, dass man nicht wissen kann, ob es übersinnliche Wesenheiten oder Kräfte gibt oder nicht, zu dem Wunsch gelangen, darüber zu spekulieren, wohl wissend, dass es sich um nicht beweisbare Spekulationen handelt. Seine Aussage lautet dann: „Ich kann nicht wissen, welcher Art die Welt außerhalb der Grenzen unseres Bewusstseins ist, ich möchte aber gerne darüber nachdenken, wie sie beschaffen sein könnte, und darüber, ob es höhere Wesen im Sinne theistischer oder polytheistischer Auffassungen geben könnte; und wenn ja, welche Eigenschaften sie haben könnten, wenn sie denn existieren würden. Ich bin mir aber bewusst, dass es sich dabei um Spekulationen handelt, aber warum sollte ich nicht spekulieren, wenn ich ein inneres Bedürfnis habe, darüber zu spekulieren.“
Wenn meine Spekulation mich dahin führt, dass ich die Existenz einer Gottheit für nicht plausibel, nicht einleuchtend und nicht in Übereinstimmung mit meiner Auffassung vom Leben halte, dann bin ich Agnostiker und gleichzeitig Atheist, soweit ich mir darüber bewusst bin, dass mein Atheismus nicht auf Wissen, sondern auf einer Spekulation beruht. Wenn mich meine Spekulationen zu der Vorstellung führen, es könne einen Gott geben, dann bin ich Agnostiker und gleichzeitig Theist, soweit ich mir darüber bewusst bin, das mein Theismus auf einer Spekulation beruht. Agnostizismus – ich kann nicht wissen, wie es ist – ist also mit Glauben – ich habe eine Ansicht darüber, wie es sein könnte – durchaus vereinbar. Und zwar sowohl mit dem Glauben an eine theistische als auch an eine atheistische Metaphysik. Glaube ist im Grunde nichts anderes als die Spekulation eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen über den metaphysischen Urgrund der Welt.
Das Bedürfnis über den Urgrund der Welt zu spekulieren kann verschiedene Gründe haben. Das schlichte Interesse an philosophischen Gedanken. Metaphysische Spekulationen als intellektuelle Herausforderung, sich mit dem Unbeweisbaren, aber Möglichen auseinanderzusetzen. Die schlichte Neugier, die sich weigert, bei den Grenzen der Erkenntnis stehen zu bleiben oder umzukehren. Der Wunsch, seine Gedanken auf einem Strom von tiefen Gefühlen von Erhabenheit und Unendlichkeit treiben zu lassen, die Suche nach etwas Höherem angesichts moralischer Krisen und existentieller Erfahrungen wie Verlust, Sterblichkeit und Schmerz, aber auch Gefühlen von tiefer Erfüllung und Dankbarkeit.
In Situationen von existentieller Bedeutung kann der Wunsch sehr stark sein, die saubere Trennung von Wissen und Nichtwissenkönnen zu überschreiten und über das Sein jenseits unseres Wissenshorizonts zu spekulieren. Wenn diese Spekulation zu einer emotionalen Gewissheit wird, dann kann man das wohl als Glauben bezeichnen. Vereinbar mit dem agnostischen Paradigma bleibt es, solange die Erkenntnis bestehen bleibt, dass es sich um subjektive, spekulative Gedanken handelt, die keine intersubjektiv nachvollziehbare Tatsache abbilden.
Aus dem Bekenntnis „ich glaube an dies oder jenes“, kann ich nicht den Schluss ableiten: „Du musst auch glauben.“ Beim Glauben geht es immer um die je eigenen persönlichen Gefühle und spekulativen Gedanken. Diese können aber niemals für andere Menschen verbindlich sein, die diese Gefühle und spekulativen Gedanken nicht teilen. Ich kann nur auf emotionaler persönlicher Ebene anderen meine Gedanken und Gefühle vermitteln in der Hoffnung, in ihnen den Wunsch zu wecken, dass sie diese Gedanken und Gefühle teilen möchten. Die Botschaft lautet dann: „Weil ich glaube, habe ich bestimmte positive emotionale Erlebnisse; wenn Du auch glaubst, dann hast Du diese positiven emotionalen Erlebnisse auch.“ Das ist die legitime Form der Verbreitung von Glauben.
Damit kann der Wunsch, auf eine bestimmte Art zu leben verbunden sein. In die Kirche gehen, kein Schweinefleisch essen, vor dem Essen beten, bestimmte religiöse Festtage feiern und so weiter. Aus diesen meinen persönlichen privaten Gefühlen kann ich aber niemals ableiten, dass andere die Gefühle teilen, verstehen oder auch nur respektieren müssen. Tolerierung meiner Gefühle und meiner Art zu leben kann eingefordert werden, Respekt kann nicht eingefordert werden. Denn meine Gefühle für etwas haben keinen größeren Anspruch darauf, zum Ausdruck gebracht zu werden, als die anderen einen Anspruch darauf haben, ihre negativen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Das Recht zu sagen, dies und jenes sei heilig, gut und rein, steht nicht höher als das Recht zu sagen, genau dasselbe sei niedrig, schlecht und schmutzig.
Eine Religion, die sich rein auf das Übersinnliche, Metaphysische und Mystische bezieht oder auch der Teil der Religion, der das tut, kommt nicht in einen Konflikt mit der Wissenschaft. Zwischen der positiven Wissenschaft und dem Glauben gibt es in diesem Fall eine Wand ohne Fenster. Die Wissenschaft behandelt unter diesen Voraussetzungen nichts, was den Glauben berühren oder widerlegen könnte, denn in Bezug auf die reine Transzendenz folgt aus dem Glauben keine Aussage über Umstände, die durch die positive Wissenschaft erforscht werden könnten. Ob irgendwo in der Welt Knochen von Urmenschen gefunden werden oder alte Inschriften, oder im All neue Planeten oder in der Kernphysik kleinste Teilchen, tangiert den Glauben an übersinnliche Kräfte jenseits von Zeit, Raum und sinnlicher Wahrnehmung nicht. Die subjektive Spekulation über den Urgrund der Welt macht keine Aussagen, die mit empirischen Forschungen in Konflikt geraten und die von einem Wissenschaftler mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln widerlegt werden könnten.
Der Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft tritt immer dann auf, wenn aus dem Glauben Aussagen über konkrete naturhistorische oder historische Ereignisse abgeleitet werden. Wenn die Religion konkrete Aussagen über das Alter der Erde macht, dann tritt sie in einen Deutungskampf mit Physik, Chemie, Biologie, Geologie und Astronomie. Wenn sie ihre Erzählungen als reale historische Ereignisse darstellt, tritt sie in Konkurrenz zur Geschichtswissenschaft, Archäologie und Philologie. Die Frage, ob Gott, Allah, Wiedergeburt, die Hölle oder Karma existieren, kann wissenschaftlich nicht erforscht werden. Die Frage, ob es Moses, König Salomo, Jesus oder Mohammed gegeben hat, wie sie als Personen wirkten und in welchem historischen Kontext sie lebten, ihre Biographie und politische Stellung können erforscht werden. Die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft oder allein der Umstand, dass ihre Protagonisten von Historikern mit der gleichen nüchternen Art untersucht, kritisiert und in ihrem Wirken hinterfragt werden wie das Leben von Platon, Gandhi oder Napoleon erfreuen die Gläubigen selten. Religionen, die konkrete historische oder naturhistorische Aussagen machen, müssen sich auch eine konkrete naturwissenschaftliche oder historische Widerlegung gefallen lassen.
Argumente, die aus dem Glauben gewonnen werden, sind nur überzeugend für andere Menschen, die diesen Glauben teilen. Wer den Glauben nicht teilt, für den sind diese Argumente auch nicht überzeugend. Der Christ mag äußern: „Meine Religion sagt, dass man sich selbst nicht töten darf.“ Ein Schintoist würde vielleicht antworten: „Meine Religion besagt, dass man sich in bestimmten Situationen sogar selbst töten muss.“ Der Christ kann den Schintoisten nicht mit christlichen Argumenten überzeugen und der Schintoist den Christen nicht mit Argumenten abgeleitet vom Schintoismus. Solange jeder seine religiösen Regeln auf sich selbst bezieht, gibt es kein Problem. Beides kann nebeneinander existieren.
Der Konflikt bricht dann aus, wenn es darum geht, verbindliche Regeln zu beschließen, die für alle gelten, ob sie den Glauben nun teilen oder nicht. Also, wenn es um die Sphäre der Politik geht. Wenn aus dem Glauben eine gesellschaftspolitische Agenda abgeleitet wird, die ohne weitere Begründung der Gesellschaft im Ganzen aufgezwungen werden soll, dann hört der Glaube auf, eine individuelle Suche nach den Urgründen der Welt zu sein und wird zu einer kollektivistischen, politischen Ideologie. Die Ableitung einer politischen Forderung aus einer absolut gesetzten Wahrheit, die nur subjektiv empfunden, aber nicht objektiv nachgeprüft werden kann, bedeutet letztlich, das persönliche Geschmacksurteil zum Maßstab aller Dinge zu machen. Da, wo Menschen vorgeben, ihren Glauben absolut zu setzen, setzen sie in Wahrheit sich selbst und ihre persönlichen Gefühle und Gedanken absolut.