Es droht der wohl uninteressanteste Wahlkampf aller Zeiten. Mal wieder wird ein „Lagerwahlkampf“ inszeniert – doch die wichtigen Themen werden nicht diskutiert. Hier und in der aktuellen Novo-Printausgabe analysiert der Gesellschaftswissenschaftler Klaus Funken die Situation.
Die Niedersachsen-Wahl hat keinen Aufschluss über die Chancen der Parteien in der Bundestagswahl gegeben. Das von vielen erwartete klare Signal für einen Regierungswechsel in Berlin blieb schwach. Mit einem so hauchdünnen Ergebnis hatte vor Wochen noch niemand gerechnet.
Mit dem deprimierenden monatewährenden Debakel um die Korruptionsaffäre Christian Wulffs, des erfolgreichen, die Partei über lange Jahre hinweg dominierenden Landesvaters und Parteivorsitzenden, waren die Chancen der CDU auf den Machterhalt alles andere als günstig. Hinzu kam die Dauerschwäche der Liberalen. Umso erstaunlicher ist es, dass die niedersächsische CDU es mit ihrem neuen Spitzenmann David McAllister schaffte, den sicher vorhergesagten Wahlsieg von Rot-Grün fast noch zu vereiteln.
Das Ergebnis von Niedersachsen reiht sich ohnehin ein in die lange Serie von Wahlniederlagen, die die Union in den Ländern seit der Kanzlerschaft Merkels im Jahre 2005 erlitten hatte. Erneut wird ein Land von Rot-Grün regiert, die Mehrheit von Schwarz-Gelb im Bundesrat ist endgültig dahin, ohne den Kompromiss mit der anderen Seite kann Merkel nichts mehr vorwärtsbringen. Das wird die Kanzlerin allerdings nicht groß bekümmern. Eine solche Konstellation kommt vielmehr Merkels auf überparteilichen Ausgleich und Kompromiss angelegtem Politikverständnis entgegen.
Merkel kann somit mit dem knappen Wahlausgang in Niedersachsen zufrieden sein: Ohne die Leihstimmenkampagne hätte die Union ein achtbares Ergebnis erzielt. Bei den Erststimmen hat sie gegenüber 2008 kaum verloren. Den Aderlass verzeichnete sie bei den wahlentscheidenden Zweitstimmen. Und dieser christliche Aderlass kam eindeutig der FDP zugute. Die FDP ist auf die Union fixiert wie der Hund auf den Knochen. Ihr parlamentarisches Überleben hängt jetzt sprichwörtlich vom guten Willen Merkels ab. Damit ist der Gestaltungs- und Handlungsspielraum der FDP praktisch auf null gesunken. Der SPD-Kanzlerkandidat wird jetzt alle Denkübungen in Richtung Ampelkoalition, die er in seinem Hinterkopf erwogen haben mag, abhaken.
Auf ein Neues: Lagerwahlkampf
Fakt ist, uns steht eine Wiederauflage des Lagerkampfs Schwarz-Gelb gegen Rot-Grün aus dem Jahre 2005 bevor. Die damit einhergehende, unvermeidliche „Zuspitzung“ ist gut für die vier Lagerparteien. Linke und Piraten werden dabei das Nachsehen haben. Auch mögliche Konkurrenz im rechten Lager wie beispielsweise die Freien Wähler werden mit ihren Botschaften kaum Gehör finden. Koalitionspolitische Lockerungsversuche in Richtung Jamaika- oder Ampelkoalition, wie sie im Vorfeld des Wahlkampfes hier und da diskutiert wurden, werden in der Wahlauseinandersetzung keine Rolle mehr spielen. Wie 2005 wird dann allerdings die anschließende Regierungsbildung umso schwerer. Schafft die Linke erneut den Sprung ins Parlament – und davon wird man ausgehen können –, wird es weder zu einer Neuauflage von Schwarz-Gelb noch zu einem rot-grünen Regierungswechsel reichen. Da sich die Linke auf Bundesebene – ganz anders als in den ostdeutschen Ländern – mit ihrer Sicherheits-, Europa-, Haushalts- und Finanzpolitik (wieder einmal) als realitätsverweigernd und damit politikunfähig erweist, kann ein rot-grün-rotes Bündnis – trotz aller Sirenenrufe ihres Spitzenkandidaten Gregor Gysi – getrost ausgeschlossen werden.
Tücken
Auf den zweiten Blick hat ein Lagerwahlkampf diesmal allerdings seine Tücken. Es fehlen ihm die durchschlagenden Themen, an denen sich die Emotionen des Wahlvolks entzünden könnten. Merkel hat es in den vergangenen Jahren verstanden, in den entscheidenden Fragen deutscher Politik der rot-grünen Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ob es sich um Finanz- oder Haushaltspolitik, Europa-, Außen- oder Sicherheitspolitik, Energie- und Umweltpolitik handelt, ob es um Gesundheits- oder Familienpolitik, Renten- oder Arbeitsmarktpolitik, um Mindestlohn oder selbst um Scheinfragen wie die Frauenquote geht, immer ist die Kanzlerin zur Stelle und – wie beim Wettlauf des Hasen mit dem Igel – begrüßt ihre Konkurrenten mit einem sauertöpfischen „Ick bün al dor!“ Die Union ist unter Merkel zu einer „Wer will noch mal, wer hat noch nicht“-Partei geworden.
Allerdings sind dieser Eingemeindungspolitik die grundlegenden Debatten, von denen der demokratische Diskurs lebt, zum Opfer gefallen. Substantielle, grundlegende Differenzen sind zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien kaum mehr auszumachen. Unterschiede sind noch in Nuancen, gleichsam im Kleingedruckten, zu erkennen. Ein Geschäft für Journalisten und Politologen. Gerade in Wahlkampfzeiten, in denen das Interesse an Politik wieder stärker erwacht, erweist sich Merkels Taktik als kluger Schachzug. Zuspitzungen, die die Menschen auch emotional beschäftigen oder gar aufwühlen, sind in der Kampagne diesmal kaum zu erwarten. Vor allem die beiden zentralen Themen – Energiewende und Euro-Rettung –, die so viel Zunder in sich bergen und die Gemüter in Wallung zu bringen vermögen, hat die schwarz-gelbe Regierung rechtzeitig neutralisiert. Da hilft auch das Getöse der Opposition, die Kanzlerin handle zu unentschlossen, zu einseitig, zu spät und langwierig, wenig. Rot-Grün hat nun einmal alle entscheidenden Schritte von Merkels Euro-Rettungspolitik mitgetragen, ja die Kanzlerin mehr als einmal vor einer Abstimmungsniederlage bewahrt. Das wird keine Wahlkampagne ungeschehen machen können. Das wird haften bleiben. Und die Union wird Gelegenheit finden, die Rot-Grünen immer wieder daran zu erinnern.
Merkels größter Coup
Merkel steht bei den beiden Megathemen deutscher Politik – Euro-Rettung und Atomausstieg/Energiewende – faktisch einer Allparteienkoalition im Deutschen Bundestag vor, sieht man einmal von der Linken ab. Zentrale Fragen werden damit – wie in den vergangenen Monaten und Jahren – auch im Wahlkampf an den Rand geschoben. Bleiben die Stromkosten, unter denen die unteren Einkommensbezieher schon heute ächzen, noch beherrschbar, sind die Stromlieferungen rund um die Uhr sichergestellt, kann die energieintensive Industrie in Deutschland auf absehbare Zeit überleben? Fragen, auf die weder die Schwarz-Gelben noch die Rot-Grünen ehrliche Antworten geben. Fest steht: Die Energiewende wird für alle teuer, sehr teuer, für Geringverdiener viel zu teuer, dabei ist ihr Gelingen alles andere als sicher, ein Scheitern nicht auszuschließen. Während wir beim Scheitern der „Energiewende“ noch auf billigen Kohle- und Atomstrom von unseren west- und osteuropäischen Nachbarn hoffen können, bleiben die Kosten eines Scheiterns der „Euro-Rettung“ vor allem beim deutschen Steuerzahler, vornehmlich bei den Sparern und Transfereinkommensbeziehern, hängen.
Es war zweifellos Merkels größter innenpolitischer Coup, die rot-grüne Opposition faktisch auf ihre Euro-Rettungspolitik einzuschwören. Dabei ist der Kurs, den ihre Regierung steuert, riskant, gefährlich riskant, und vermutlich auch wenig erfolgversprechend. Doch über die tatsächlichen Risiken der Euro-Rettungspolitik wurde im Deutschen Bundestag so gut wie nie gesprochen. Und das wird sich auch im beginnenden Wahlkampf kaum ändern. Also: Keine Auseinandersetzung mehr darüber, dass die Finanzpolitik der Euro-Länder in nationaler Eigenverantwortung bleiben muss. Das war Grundlage der Währungsunion, wie sie im Maastricht-Vertrag vereinbart worden war. Keine Auseinandersetzung mehr darüber, dass Mitgliedstaaten, auch die Europäische Union nicht, für die Schulden eines anderen Mitgliedstaates eintreten oder haften müssen. Auch das war Grundlage der Währungsunion, wie sie im Maastricht-Vertrag vereinbart worden war. Für Merkels Allparteienkoalition ist das längst schon Makulatur, Schnee von gestern. Die deutsche Stabilitätskultur, die mit der Einführung des Euro auf alle Beitrittsländer übertragen werden sollte, ist längst zu Grabe getragen worden. Die Vertreter der ehemals so mächtigen wie erfolgreichen Deutschen Bundesbank sind im EZB-Rat marginalisiert, ohne Macht, ohne Einfluss, und können ihren meist leisen Protest gegen den fundamentalen Kurswechsel in der europäischen Geldpolitik nur noch zu Protokoll geben. Unterstützung von den Parteien bekommen sie dafür nicht. Die Kanzlerin bedauert pflichtgemäß. So finanziert die EZB – mit der Notenpresse – heute munter die Haushalte bankrottgefährdeter Staaten, zwischenzeitlich rettet sie sogar auch schon marode Banken, die sich in der Immobilienblase gnadenlos verzockt haben, vor der Pleite. Die Weichen sind schon längst für eine Haftungsunion gestellt, in der allein der deutsche Steuerzahler für die gigantische Summe von 736 Milliarden Euro gerade zu stehen hat (vgl. den „Haftungspegel“ des Ifo-Instituts, Stand 23. Januar 2013).
Klar ist: Die Rechnung von Merkels Euro-Rettungspolitik-Politik wird den Deutschen erst nach der Wahl präsentiert. Und die kann unangenehm hoch ausfallen. Doch darüber wird im kommenden Lagerwahlkampf vermutlich wenig gesprochen werden, weder in der Regierung, noch in der rot-grünen Opposition, die Merkels Politik bei allen entscheidenden Abstimmungen mitgetragen hat.
Verkorkst
Die Ausgangslage für die Kampagne der Oppositionsparteien in der Bundestagswahl ist deshalb ziemlich verzwickt, um nicht zu sagen verkorkst. Merkels Union, die kein populäres, wahlwirksames Thema links liegen lässt, bietet bei Lichte besehen wenig Angriffsflächen. Die großen Themen bleiben tabu, über die vielen kleinen kann trefflich gestritten werden. Nur wen interessiert das?
Sicher: Das rot-grüne Lager wächst, die Zustimmung bei Wahlen ist gegenüber dem Tiefpunkt 2009 gestiegen. Die rot-grünen Wahlsiege der vergangenen Jahre wurden jedoch maßgeblich von den Grünen eingefahren. Der Beitrag der SPD blieb dagegen bescheiden. In den neuen Bundesländern sind die Grünen inzwischen in allen Landtagen angekommen, das war lange Zeit nicht so. In den alten Ländern erzielen sie regelmäßig zweistellige Wahlergebnisse. In Baden-Württemberg stellen sie den Ministerpräsidenten, in zahlreichen Städten den Bürgermeister. Spektakulär der Sieg von Fritz Kuhn in Stuttgart.
Während die Grünen komfortabel dastehen, ist die Lage der SPD unverändert schwierig. Das liegt nicht nur am Fehlstart ihres Kanzlerkandidaten. Die Gründe liegen tiefer. Der SPD gelingt es nicht, sich vom historischen Tief des Jahres 2009 entscheidend weg zu bewegen. Trotz des bejubelten Wahlsieges hat die SPD in Niedersachsen das zweitschlechteste Ergebnis seit 1947 erzielt. So oder so ähnlich sieht es auch in den anderen Ländern aus. Den Niveauverlust zwischen 10 und 20 Prozentpunkten, den die Partei während Schröders Regierungszeit erlitten hatte, hat sie bei keiner Wahl mehr zurückführen können. Anders die Grünen. Nach dem relativ kurzen Stimmungstief Anfang des Jahrhunderts ist die grüne Partei heute wieder ganz oben auf. Mehr noch: Der Abstand zwischen den beiden Parteien schmilzt unentwegt weiter. Der Grund liegt auf der Hand.
Nach wie vor sind es die Grünen, die beim gemeinsamen „rot-grünen Projekt“ politisch-programmatisch den Takt vorgeben. In der Umweltpolitik ohnehin, in der Energie-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch der äußeren und inneren Sicherheitspolitik, der Außenpolitik, der Gesellschafts-, Bildungs-, selbst der Familienpolitik dominieren grüne Farben. Die Sozialdemokraten hecheln immer wieder hinterher. Hinzu kommt: Die Grünen sind auch personell vielfach besser aufgestellt. In den achtziger und neunziger Jahren haben sich viele der talentierten Nachwuchspolitiker an der SPD vorbei den Grünen zugewandt. Die Hoffnungsträger von damals sind die Führungspersonen von heute. Das spürt die SPD. Ihre Personaldecke ist verdammt dünn geworden. Die grüne Hegemonie im linken Lager ist deshalb – auch im engen Zusammenspiel mit einer den Grünen zugeneigten Presse – ungebrochen.
Somit steckt die SPD nach wie vor in der selbst verschuldeten Strategiefalle fest: Warum sollen Wähler das Kreuz bei der SPD machen, wenn auch das Original zur Wahl steht. Die grüne Führung weiß zwischenzeitlich mit diesem Vorteil virtuos umzugehen. Die SPD hat dagegen bislang kein Mittel gefunden, wie sie sich aus der Strategiefalle entwinden kann. Man würde meinen, sie hätte spätestens seit ihrem Wahldebakel 2009 hinreichend Zeit gehabt, sich mit einer eigenständigen, klar erkennbaren sozialdemokratischen Handschrift programmatisch und personell neu aufzustellen. Dazu hätte auch gehört, nach allen Parteien offen zu sein, keine Regierungskonstellation von vorneherein auszuschließen. Doch mit dem Revival des Lagerwahlkampfes ist diese Chance vertan worden. Mehr noch: Mit dem Lagerwahlkampf wird das alte Dilemma der SPD erneut mit voller Wucht zu Tage treten.
Wahlkampf ohne Biss
So droht uns ein Wahlkampf ohne Biss, vermutlich der wohl langweiligste und zugleich der uninteressanteste Wahlkampf seit Bestehen der Bundesrepublik. Die „Keine Experimente“- und „Weiter so“-Wahlkämpfe Adenauers und Kohls werden uns gegenüber dem, was uns diesmal blüht, als munterer Schlagabtausch mit ungewissem Ausgang vorkommen. Eine echte Wahl, eine Wahl zwischen unterschiedlichen Antworten auf die zentralen Fragen unserer Zeit haben wir eigentlich nicht. So wird der Bürger kaum hoffen können, auf seine Sorgen und drängenden Fragen ehrliche Antworten zu bekommen. Wie geht es weiter mit der Haftung und wohlmöglich auch Übernahme von Schulden süd- und westeuropäischer Staaten? Welche Belastungen kommen auf die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich zu? Droht bei dem anhaltenden Fluten des Geldesmarktes durch die Europäische Zentralbank, dem die deutschen Vertreter im EZB-Rat hilf- und tatenlos zu sehen, auf mittlere Frist nicht Inflation und damit Wohlstandsverlust für Millionen? Was tun die Bundesregierung und ihre Vertreter in den europäischen Gremien, um den Zugriff südeuropäischer Regierungen auf die deutschen Steuermilliarden abzuwehren? Welchen Entscheidungsspielraum haben die deutschen Volksvertreter bei der sogenannten „Euro-Rettung“ überhaupt noch? Ist der „materielle (unantastbare) Identitätskern unserer Verfassung“ noch gegeben, wenn das Budgetrecht des Parlaments immer weiter eingeschränkt wird? Der Kernbestand unserer demokratischen Ordnung ist in Gefahr, wenn das einzig frei gewählte und damit das besonders legitimierte Verfassungsorgan, der Deutsche Bundestag, weiterhin einen solchen Bedeutungsverlust erleidet wie in den vergangenen sieben Jahren, den Merkel-Jahren. Es geht also ums Eingemachte, nicht um irgendwelche Kinkerlitzchen. Doch es ist wenig wahrscheinlich, dass Fragen dieser Art bei den zu erwartenden „Zuspitzungen“ im Lagerwahlkampf Schwarzgelb : Rotgrün eine prominente Rolle spielen werden. Stattdessen werden sich die Lagerparteien mit ganz anderen Fragen zu profilieren suchen, etwa der Frage, ob es gerechtfertigt ist, Müttern ein Betreuungsgeld zukommen zu lassen, die ihre zwei- oder dreijährigen Kinder lieber Zuhause betreuen und erziehen möchten. Oder der Frage, ob die sogenannte Lebensleistungsrente um 10 oder 20 Euro aufgestockt wird. Nicht zu vergessen die Frauenquote in Dax-Unternehmen, also der uns alle so bewegenden Frage, ob und wie 200 oder 300 junge Managerinnen den Sprung in die Vorstandsebene von Dax-Unternehmen vorzeitig schaffen.