Am 19. November 2013 jährte sich zum dreißigsten Mal der Kölner Parteitag der SPD. Für die meisten ein vergessenes, für Sozialdemokraten ein verdrängtes Datum.
Es war der Parteitag, der ganz im Zeichen des NATO-Doppelbeschlusses stand, jenes Beschlusses, der die Partei seit seinem Inkrafttreten im Dezember 1979 zu zerreißen drohte. Es war der Parteitag der Abrechnung mit dem ungeliebten Beschluss und der Tag der Abrechnung mit dem angeblichen „Erfinder“ des NATO-Doppelbeschlusses, Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Es war der Parteitag, auf dem die Partei praktisch geschlossen gegen Schmidts Sicherheitspolitik stimmte und sie stimmte gegen die Politik, die sie Jahre zuvor in ihrer großen Mehrheit befürwortet hatte. Das gesamte Führungspersonal der Partei – angefangen mit dem Parteivorsitzenden Willy Brandt und dem Vorsitzenden der Bundestagsfraktion Hans Jochen Vogel – fiel ihrem ehemaligen Bundeskanzler in den Rücken. Schmidt stand praktisch alleine auf dem Parteitag – von einer Handvoll Getreuer abgesehen. Er musste sich zudem vom linken Flügel seiner eigenen Partei gefallen lassen, als „nützlicher Idiot“ der „US-amerikanischen Angriffskrieger“ niedergemacht zu werden. Ganze 14 Delegierte von 400 hielten am Schluss noch zu ihm. Ein Trauma für die SPD, noch heute.
Über die Bedeutung des „Nato-Doppelbeschlusses“ ist unendlich viel geschrieben worden. Hier gibt es nichts Neues hinzuzufügen. Die Ausgangslage ist bekannt, die Motive der handelnden Politiker, der Verlauf der Auseinandersetzungen, die Umsetzung des Beschlusses mit der Stationierung der Pershing II und der Cruise Missiles sowie schließlich der überwältigende Erfolg der Strategie, die dem „Nato-Doppelbeschluss“ zugrunde lag: Zum ersten Mal hatten sich 1987 die beiden Supermächte auf den vollständigen Abbau einer ganzen Waffengattung, der eurostrategischen nuklearen Mittelstreckenraketen, verständigt, jene Waffen, die seit Mitte der siebziger Jahren zu einer gefährlichen militärischen und politischen Destabilisierung Europas beigetragen hatten. Der „Nato-Doppelbeschluss“ wird von den meisten Historikern als ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung eingestuft, ein Ereignis, das den „Kalten Krieg“ beendigen half und das die tödliche Bedrohung, die die westlichen Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg gelähmt hatte, endgültig abwendete. Als letztes entscheidendes Kapitel des „Kalten Krieges“, an den sich heute ohnehin kaum einer noch erinnern mag, ist der „Nato-Doppelbeschluss“ längst in den Geschichtsbüchern abgelegt worden, aus dem Gesichtskreis der öffentlichen Wahrnehmung der Gegenwart weitgehend verschwunden.
Nur die SPD tut sich schwer mit der Bewertung der Ereignisse damals vor 30 Jahren. Niemand von denjenigen, die Schmidts Sicherheitspolitik Anfang der achtziger Jahre so vehement, nicht selten ehrverletzend bekämpft hatten, fand die Größe, den wichtigsten Abrüstungserfolg im „Kalten Krieg“, der im wesentlichen Schmidts Erfolg war, zu würdigen. Selbst die Parteispitze fand kaum anerkennende Worte. Noch in der Rückschau – zehn Jahre nach dem Kölner Parteitag und fünf Jahre, nachdem Reagan und Gorbatschow die Verschrottung aller nuklearen Mittelstreckenraketen beschlossen hatten – resümierte Willy Brandt in seinen „Erinnerungen“ kühl, distanziert, spöttisch herablassend: „der Streit um die nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa“ nehme „sich wie eine Groteske aus“ (S. 353). Brandt stimmte dem Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, Zbigniew Brzezinski, zu, der gemeint hatte, Schmidt befasse sich mit Angelegenheiten, die den Regierungschef eines nicht-nuklearen Landes nichts angingen. „Ich hegte“, so Brandt, „große Bedenken, daß in unserer Zeit ein deutscher Regierungschef zu hoch greife, wenn er sich in einer strategischen Ost-West-Frage die Führung zutraute“ (S. 355), was Schmidt – aus guten Gründen – gar nicht beabsichtigt hatte. Schmidt stand schließlich mit seiner Analyse nicht allein. Brandts Einlassung bedeutete nach so langer Zeit eine schallende Ohrfeige für den ehemaligen Bundeskanzler. Die Gräben blieben tief bis zu Brandts Tod, in der Sache letztlich unversöhnlich.
Geradezu abstrus äußerte sich Erhard Eppler zwanzig Jahre nach Köln: Er habe „diese ganze Auseinandersetzung nicht nur und auch nicht überwiegend als einen Ost-West-Konflikt erlebt, sondern als einen Konflikt von Helmut Schmidt und Jimmy Carter.“ (Schwan/Steininger, Die Bonner Republik 1949-1998, S. 200). Schmidt – so Epplers Botschaft – sei seiner eignen Wichtigtuerei zum Opfer gefallen. Deshalb habe er, Eppler, die Notwendigkeit des Nato-Doppelbeschlusses nicht eingesehen. Es sei doch so gewesen, dass der Westen damals viel stärker gewesen sei und „dass er das (den Doppelbeschluss) also eigentlich nicht nötig hat.“ (S. 201). Egon Bahr und Peter Glotz, Brandts engste Mitarbeiter und beide Bundesgeschäftsführer der Partei am Beginn der achtziger Jahre, formulierten ähnlich wie Brandt und Eppler, wenn auch verschlüsselter, eher milder, zurückhaltender, diplomatischer.
Dabei überraschen Brandts, Epplers, Glotzens und Bahrs späte Bewertungen. Denn Anfang der achtziger Jahre hörten sich ihre Einlassungen noch ganz anders an. Besonders Erhard Eppler, der „Vordenker der Partei“, hatte sich auf zahllosen Parteiveranstaltungen, in einschlägigen Büchern und Artikeln, besonders auch bei seinen Auftritten bei den großen Demonstrationen der deutschen Friedensbewegung mit geradezu alttestamentarischem Eifer gegen Schmidts Sicherheitspolitik ausgesprochen, stand doch, wie er ganz im Einklang mit der Friedensbewegung behauptete, bei einer Nachrüstung amerikanischer Mittelstreckenraketen nicht weniger als das Überleben der Menschheit auf dem Spiel.
Eppler warf den USA vor, einer todbringenden Utopie nachzujagen. Deren Bestreben, für ihre Bevölkerung ein Höchstmaß an Sicherheit zu erzielen, sei eine „schäbige Utopie“ (Eppler, Die tödliche Utopie der Sicherheit, S. 29f). Diese sei „die Folge technokratischer Blickverengung, die, wie alle Verengungen, mit Angst zu tun“ habe. Sie sei das Ergebnis eines kaum vorstellbaren Verlustes an Wirklichkeit, eines Leugnens menschlicher und geschichtlicher Realität. „Sie ist ein sicherer Weg zum Tode und dabei noch nicht einmal heroischer, sondern durchaus spießbürgerlicher.“ Auf solche Formulierungen muss man auch erst einmal kommen! Die ängstlichen Spießbürger vom Pontomac, die blind und realitätsfern die Welt in den sicheren Tod führten, das war keine Analyse realer Gefahren mehr, das war die Beschwörung der Apokalypse, des „atomare Holocaust“, den abzuwenden jetzt die, wie Eppler meinte, deutsche Friedensbewegung aufgerufen war. Eppler traf mit seiner einfachen, archaisch anmutenden Sprache, die keinerlei Zwischentöne zuließ, den Nerv der Zeit. Sie war typisch für das irrationale, überspannte Empfinden, das Hundertausende von „Friedensbewegten“ auf die Straßen trieb. Aus dem Munde und der Feder eines deutschen Spitzenpolitikers wurden hier Töne angeschlagen, die nicht nur Menschen in den USA befremdeten. Es war nur schwer vorstellbar, wie mit einer solchen Einschätzung das beklagte Übel abgewendet werden konnte. Konkrete Politik mit den real existierenden Mächten und deren Führungseliten ließ sich damit jedenfalls nicht umsetzen. Auf wen konnte Eppler denn zählen?
Abhilfe versprach Eppler sich von dem neu entstehenden Bündnis gesellschaftlicher Kräfte, die sich gegen den Rüstungswahnsinn stellten. Von den Experten in Politik, Militär, Wissenschaft und Wirtschaft sei kein Beitrag zur Lösung dieser drängenden Existenzfragen der Menschheit zu erwarten. Es wäre ja das erste Mal in der Geschichte, wenn Generäle und Militärtechnokraten sich damit abfänden, Waffen aufzuhäufen, mit denen man keinen Krieg führen kann. Generäle seien nicht zuständig für den Holocaust, sondern für den Krieg. Und den, so unterstellte er indirekt, würden sie schließlich auch führen wollen. Damit schieden die Experten, die Profis, als Gesprächspartner von vorneherein aus. Nicht anders erging es den Politikern, die sich auf den Sachverstand der Militärs verließen. Auch sie waren als Gesprächspartner ungeeignet. Nur mit wem konnte das Unheil abgewendet werden? Es war eben dieses neue Bündnis gesellschaftlicher Kräfte, das sich in der Friedensbewegung versammelte. Es war ein Bündnis, das allerding so heterogen zusammengesetzt war, dass es, wie sich bald zeigen sollte, politisch handlungsunfähig war. Der „Vordenker“ der SPD führte die Partei ins Abseits, in die Politikunfähigkeit. Und die Partei folgte ihm. Der Rest ist Geschichte. Die Schmidt-Regierung wurde gestürzt. Kohl kam an die Macht und blieb 16 lange Jahre Bundeskanzler. Die Pershing II und die Marschflugkörper wurden stationiert. Und es wurde weiterverhandelt.
Das Jahr 1983 war für die SPD das Jahr der Ernüchterung. Am 6. März ging die Bundestagswahl verloren. Die Hoffnung der Partei, mit einem „Raketenwahlkampf“ die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler auf ihre Seite zu ziehen, wurde bitter enttäuscht. Kohl und Genscher siegten trotz ihres klaren Bekenntnisses zum NATO-Doppelbeschluss mit deutlichem Vorsprung. Der Nachrüstung stand jetzt nichts mehr im Wege. Eine neue linke Partei zog in den Deutschen Bundestag ein, die mit ihren unorthodox frechen Aktionen schnell zum Liebling der linken Meinungsmacher wurde. Der Kölner Parteitag hatte schon längst nicht mehr die Aufmerksamkeit erregt, wie die Bundesparteitage zuvor. Das kam nicht überraschend. Die Beschlüsse, die in Köln gefasst wurden, waren vorsehbar und für den weiteren Verlauf der bundesdeutschen Politik ohne Belang. Ende 1983 begann in Deutschland die Stationierung der 102 Pershing II Raketen. Der Kampf gegen die US-Raketen war verloren. Die Friedensbewegung, die während der letzten Jahre der Regierungszeit von Helmut Schmidt Hunderttausende auf die Straßen gebracht hatte, zerfiel rasch. Vom neuen gesellschaftlichen Bündnis, in das die SPD sich schließlich meinte einordnen zu müssen, konnte keine Rede sein. Die „Helden“ der Bewegung, die die Schlagzeilen über Jahre beherrscht hatten, verschwanden von den Bildschirmen. Der Sturz der Partei war tief und unvermeidlich. Die Stimmung Ende des Jahres düster, deprimierend. Die Regierungsmacht war weg, die politische Deutungshoheit verschob sich zu den „Grünen“, die öffentlichen Debatten gingen an der SPD immer häufiger vorbei, und der nach wie vor populärste Sozialdemokrat, auf den die SPD meinte verzichten zu können, zog sich ins Privatleben zurück. Man hätte also annehmen können, dass es hohe Zeit und genügend Anlässe gab, selbstkritisch auf die vergangenen Jahre zurückzuschauen. Doch von selbstkritischer Reflexion war die SPD weit entfernt.
Nicht die SPD profitierte von dem Politikwechsel, den Erhard Eppler und Oskar Lafontaine seit langem betrieben und den Brandt, Bahr und Glotz zunächst verdeckt und dann offen unterstützt hatten, profitieren tat die neue Kraft im politischen Parteienspektrum der Bundesrepublik, die „Grünen“. Nicht nur Erhard Eppler und Oskar Lafontaine hatten auf dem Kölner Parteitag triumphiert, sondern auch die Friedensbewegung und ihre neue Partei, die „Grünen“. Ein fataler Eindruck drängte sich auf: Man brauchte „der alten Tante SPD“ nur tüchtig einheizen, dann sprang sie schon. 1983 hatte sich aber nicht nur eine neue Partei im Parteiensystem etabliert, sondern es entstand im medial-kulturellem Umfeld der Partei auch jene „grüne Hegemonie“, die erst in diesen Tagen zu verblassen beginnt. Der Kölner Parteitag war eine Wendemarke, von der sich die SPD nie mehr so recht hat erholen können.
Auszug aus: Klaus Funken, Zum 150sten keine Festschrift, Anmerkungen zur SPD heute, erscheint demnächst als „cuncti eBook“.