Die Mitgliederbefragung der SPD zum Koalitionsvertrag hat sich für die Partei bezahlt gemacht. Und das gleich mehrfach.
Nach dem erneuten Wahldesaster bei der Bundestagswahl 2013 riss die Befragung die Partei aus der Lethargie heraus, in die sie unvermeidlich gefallen wäre. Eine aufrüttelnde Parteitagsrede wie nach dem Wahlschock 2009 reicht einfach nicht aus, um der gelähmten Partei neues Leben einzuhauchen.
Das hatte Gabriel gelernt. Die Partei musste diesmal von Anfang „mitgenommen“ werden, zumal die Aussicht auf eine „Große Koalition“ unter Angela Merkel alles andere als attraktiv ist. Hinzu kam: Die Aussicht auf eine Mitgliederbefragung stärkte der sozialdemokratischen Verhandlungsdelegation den Rücken. Eine Koalition zum Schnäppchenpreis war nicht drin. Merkel und ihre Union mussten das in Rechnung stellen. Ohne eine deutliche sozialdemokratische Handschrift im Koalitionsvertrag konnte sich die Parteiführung vor Partei und Öffentlichkeit nicht blicken lassen. Auch diese Rechnung Gabriels ist aufgegangen. Nicht nur mit dem Vertrag selbst, sondern auch mit der Zahl und dem Zuschnitt der Ministerien können Sozialdemokraten zufrieden sein. Klarer Verlierer ist die CSU.
Dass über drei Viertel der 475 Tausend Mitglieder an der Befragung teilnahmen, ist ein unerwartet gutes Ergebnis. Gabriels Rechnung ist auch hier aufgegangen. Er kommt gestärkt aus der Aktion, er ist nun unumstritten die Nr. 1 in der Partei, niemand kommt an ihm als zukünftigem Kanzlerkandidaten mehr vorbei. Die Machtverhältnisse an der Spitze sind in der SPD auf absehbare Zeit geklärt und das ist gut so. Mit der längst fälligen Option auf rot-rot-grüne Bündnisse auch im Bund hat sich zudem die Parteiführung neue Bewegungsfähigkeit verschafft. Anders als in der ersten Großen Koalition unter Merkel hat die SPD jetzt eine Ausstiegsoption, wenn sie vor unzumutbaren Entscheidungen gestellt wird. Eine Politik „ohne Alternativen“ wird jetzt nicht mehr so leicht vermittelbar sein. Eine „Basta-Politik“ aber auch nicht.
Wichtiger als die taktische Finesse des Parteivorsitzenden, der das richtige Gespür für die Stimmungslage in der Partei aufbrachte, ist jedoch etwas ganz anderes. Der überwältigende Erfolg der Mitgliederbefragung zeigt, dass das „Parteivolk“ – vermutlich nicht nur der SPD – mehr Beteiligungs- und Mitspracherechte will und einfordert. Eine Partei, die diesem Begehren entgegenkommt, wird in Zukunft einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren Mitbewerbern haben. Die SPD hat hier ein Zeichen gesetzt. Doch darf sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben.
Eines dürfte allerdings feststehen: Nichts wird in der SPD wieder so sein wie zuvor. Wer als Mitglied über den Abschluss einer Koalition auf Bundesebene mitentschieden hat, wird sich das Recht bei anderen Entscheidungen – vor allem bei Personalentscheidungen – nicht mehr nehmen lassen. Hat Parteichef Gabriel nach dem Desaster der Bundestagswahl von 2009 noch vor einer echten Parteireform zurückgescheut (vgl. Klaus Funken, Vom Elend eine Partei zu reformieren, INDES 2/2012), kann die Parteiführung nach dem erneut deprimierenden Wahlergebnis vom 22. September 2013 und dem Mitgliederentscheid nicht mehr zu den alten Verhältnissen zurück.
Eine echte Parteireform steht jetzt an, eine Reform, die ernst macht mit der Stärkung der Mitentscheidungs-, Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte des Parteivolkes. Bisher war eine solche Reform am Widerstand der Funktionäre auf der mittleren und höheren Führungsebene gescheitert. Weder Mitgliederentscheid noch die Wahl des Führungspersonals stoßen beim Parteiestablishment auf große Sympathien. Beides sind Fremdkörper in der Partei geblieben. Das mag aus der Sicht der Berufspolitiker und der Spitzenfunktionäre erwünscht sein. Demokratisch ist es nicht. Denn das komplizierte, langwierig ausgehandelte und sorgfältig austarierte Gleichgewicht bei Personalentscheidungen verträgt sich nur schwer mit einem demokratischen Auswahlverfahren.
Demokratie ist nun einmal langwierig, anstrengend. Es ist viel leichter und sicher auch „effizienter“, dies in der Hand „bewährter Führungspersonen“ zu belassen, zumal durch offizielle und inoffizielle Quotierungen – nach Geschlecht, Region, Herkunft, Alter, Berufsstand, sexueller Orientierung, Verbands- und natürlich Gewerkschaftsmitgliedschaft – das von den Funktionären erwartete, „angemessene“ Personaltableau immer schwerer aufzustellen ist.
Immerhin wurden auf kommunaler Ebene und auch in einigen Ländern „Urwahlen“ mit großer öffentlicher Beachtung durchgeführt. Ein voller Mobilisierungserfolg, wie sich immer wieder zeigte. Zuletzt in Schleswig Holstein. Doch sind solche Beteiligungen der Mitglieder am Auswahlverfahren des Führungspersonals in der SPD bislang nach wie vor Ausnahmen. Das wird sich vermutlich demnächst ändern.
Eine Selbstnominierung wie im Falle Peer Steinbrücks, bei der es reichte, dass die beiden anderen Mitbewerber in der sogenannten Troika ihren Verzicht auf eine Kandidatur erklärten, die Parteifunktionäre auf dem Wahlparteitag die Entscheidung der Troika nur noch abnicken durften, wird es dann nicht mehr geben. Das Parteivolk, bisher auf eine bloße Zuschauerrolle beschränkt, wird sich eine solche Kandidatenkür dann nicht mehr bieten lassen. Es ist also höchste Zeit, die Mitglieder der Partei auch bei der Auswahl der Kandidaten in den Wahlkreisen und bei der Aufstellung der Wahllisten zu befragen und mitentscheiden zu lassen. Wenn es dann dabei demokratisch zugehen soll, muss jedes Mitglied eine gleichwertige Stimme haben. Eine Besserstellung oder Benachteiligung kann es dann nicht mehr geben.