Der Wahlkampf der SPD war komplett falsch angelegt. Martin Schulz der ungeeignete, völlig überforderte Kandidat.
Was ist bloß los mit den Parteien? Hat es das denn schon mal gegeben? In der deutschen Nachkriegsgeschichte zumindest noch nicht. Da weigern sich gleich zwei – sollte man sagen – ehemals staatstragende Parteien, in eine Regierung einzutreten und Verantwortung für das Land und seine Bürger zu übernehmen. Und das in einer Situation, in der die Bundesrepublik eine starke Regierung – gestützt auf eine solide parlamentarische Mehrheit – braucht. Das erwarten nicht nur die Bürger in Deutschland. Auch die Europäer, die sich um die Zukunft ihres Kontinents Sorgen machen, erwarten, dass die Deutschen endlich eine handlungsfähige Regierung bekommen. Stattdessen parlamentarischer Stillstand, Selbstlähmung der Regierung und ungläubiges Entsetzen im In- und Ausland. Was ist bloß los mit den Parteien?
Dass das Wahlprogramm der Liberalen mit dem der Grünen kaum miteinander zu vereinbaren ist, wusste Christian Lindner auch schon vorher. Und dass eine Partei, die gerade einmal zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, nicht lupenrein ihre Ziele durchsetzen kann, versteht sich doch von selbst. Dafür hätten die Liberalen die Deutschen nicht acht Wochen hinhalten und das Schauspiel von seriösen Sondierungsgesprächen vortäuschen brauchen.
Im Zustand hochnotpeinlicher Konfusion befindet sich vor allem die SPD. Da erklärt ihr Vorsitzender, kaum dass die Wahllokale geschlossen hatten, einem verblüfften Fernsehpublikum rundheraus, seine Partei habe keine Lust aufs Regieren und verkrümele sich lieber in die gemütliche Oppositionsecke. Dass der Bundespräsident, selbst ein Sozialdemokrat, seine Genossen an die Pflichten und die Verantwortung von frei gewählten Abgeordneten erinnern musste, ist nicht weniger peinlich vor allem für eine Partei, die sich bislang zugutehielt, die Interessen des Landes stets vor die der Partei zu stellen. Tempi passati. Erst die ernsten öffentlichen Ermahnungen des Bundespräsidenten veranlassten schließlich die Parteiführung, einzulenken und sich zumindest für Gespräche mit der Union bereitzuhalten.
Dabei hat die SPD gar keinen Grund, mit Merkel unzufrieden zu sein. Die Kanzlerin hatte in den vergangenen vier Jahren alles getan, um die Genossinnen und Genossen bei Laune zu halten. Zuletzt ist sie noch gegenüber ihrer eigenen Partei wortbrüchig geworden, um eines der Lieblingsprojekte der Genossen, die „Ehe für alle“, durchs Parlament zu boxen. Aus sozialdemokratischer Sicht zumindest kann sich das Ergebnis ihrer vierjährigen Regierungsarbeit durchaus sehen lassen. Dass sie es nicht verstand, das den Wählern deutlich zu machen, ist Merkel nicht anzulasten.
Warum dann diese Scheu, sich erneut mit der Union einzulassen und eine Neuauflage der Großen Koalition strikt auszuschließen. Das Wahlergebnis allein kann es nicht sein. Schließlich wurden ja nicht nur die Sozialdemokraten von den Wählern abgewatscht. Die Verluste für die CDU, und vor allem für die CSU, fielen deutlich höher aus und vor allem waren sie für die Union schmerzhafter. Im Deutschen Bundestag sitzt nun der Union – zum ersten Mal seit sechzig Jahren – eine rechtskonservative Konkurrenz im Nacken, die ihr das Leben noch schwer machen wird.
Die rüden Angriffe des SPD-Parteivorsitzenden auf die Kanzlerin können als Erklärung auch nicht herhalten. Dass Merkels Politikstil sich im Ungefähren bewegt, ist nichts Neues. Dass sie die Führungskompetenz ihres Amtes nicht ausfüllt, sondern lieber präsidial über den Parteien schwebt, zögert, mehr moderiert als regiert und in der Regel abwartet, bis Entscheidungen „herangereift“ sind, ist ja auch schon seit langem bekannt. Die gelernte Ostdeutsche lässt sich ungern in die Karten sehen. Das ist nun mal ihre Eigenart. Sie verlangt vom Wahlvolk am liebsten einen Blankoscheck, der ihr alle Optionen fürs Regieren offen lässt. Das ist clever und vordemokratisch zugleich.
Merkel deshalb einen „Anschlag auf die Demokratie“ und einen „skandalösen Wahlkampf“ vorzuwerfen, weil sie sich vor „inhaltlichen Auseinandersetzungen drückt“, ist nicht falsch, geht am Problem aber vorbei. Es wäre Aufgabe der SPD und ihres Vorsitzenden gewesen, die Kanzlerin zu stellen, die inhaltliche Debatte an sich zu reißen und die Union zu klaren Positionen zu zwingen. Genau das ist nicht passiert. Die bittere Wahrheit ist, dass weder Martin Schulz noch seine Partei dazu in der Lage waren.
Mehr noch: Der Wahlkampf der SPD war komplett falsch angelegt. Martin Schulz der ungeeignete, völlig überforderte Kandidat. Das Programm der Partei ohne Aufmerksamkeitswert und unattraktiv. Ein Team, das die offensichtlichen Schwächen des Kandidaten hätte ausbügeln können, war weit und breit nicht in Sicht. So ließ man den hilflosen Herausforderer gnadenlos herum hampeln und ihn von einem Fettnäpfchen ins andere treten, so als ginge die verkorkste Kampagne die Parteiführung nichts an.
Heute die Duldung einer Minderheitsregierung als Ausweg aus der selbstverschuldeten Konfusion vorzuschlagen, in die sich die SPD – Führung ohne Not selbst hinein manövriert hat, ist eine Schnapsidee, ja im Grunde verantwortungslos. Eine Minderheitsregierung wäre per se schwach, kaum handlungsfähig, ohne Autorität im Inland wie im Ausland. Schwierige, unpopuläre, aber für das Land notwendige Entscheidungen kämen kaum noch zustande, da der Regierung dafür keine parlamentarischen Mehrheiten zur Verfügung ständen. Zustande kämen vor allem Entscheidungen, die das Wählerklientel der Parteien bedienten, die für die parlamentarische Mehrheit sorgten. Der daraus erwachsene Eindruck eines zähen parteipolitischen Gezerres um Einfluss und Pfründe wäre für die politische Kultur des Landes fatal. Ein Land vom Zuschnitt der Bundesregierung kann so nicht regiert werden.
Man muss schon weit in die Geschichte der SPD zurückgehen, um an ein ähnliches Versagen einer sozialdemokratischen Führung zu erinnern. Am 27. März 1930 hatte die heillos zerstrittene sozialdemokratische Reichstagsfraktion Hermann Müller zum Rücktritt vom Amt des Reichskanzlers gezwungen. Müller, selbst Sozialdemokrat, war der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik, der sich noch auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte. Ihm folgten Heinrich Brüning, Kurt von Schleicher und schließlich Adolf Hitler. Alle drei waren von Reichspräsident Paul von Hindenburg zu Reichskanzlern ernannt worden. Sie standen Minderheitskabinetten vor, regierten ohne parlamentarische Mehrheit, sondern ausschließlich aufgrund der Autorität des Reichspräsidenten und mit den berüchtigten Notverordnungen. Die mangelnde demokratische Legitimation der Notverordnungskabinette hatte schließlich zum Ansehensverlust der Weimarer Republik entscheidend beigetragen.
Jetzt fehlt nur noch, dass auch Angela Merkel hinwirft und sich – wie seinerzeit der sächsische König Friedrich Augst III. – von der Macht verabschiedet: „Nu da machd doch eiern Drägg alleene!“ Vielleicht ist das ja die magische Formel, mit der der Gordische Knoten, in dem sich die Berliner Parteien verheddert haben, durchschlagen werden kann. Wenn dann noch die beiden Spitzenchaotiker der deutschen Politik es Merkel nachtun, könnte es mit der Regierungsbildung doch noch was werden.